Archiv für den Monat Juli 2015

Eine Ehe zwischen einer Aspergerin und einem NT

Ich schreibe bewusst im Titel dieses Blogs „eine“ Ehe, weil ich nur über meine Ehe schreiben kann. Nach 31 Jahren Ehe mit einem NT kann ich mir das erlauben. Von Unerfahrenheit kann hier keine Rede mehr sein.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich über meine Ehe schreiben soll, weil es einen großen Eingriff in meine Privatsphäre bedeutet, aber ich weiß auch sehr wohl, wie oft ich im Internet nach genau diesem Thema immer gesucht habe, um Informationen zu bekommen. Also habe ich beschlossen, einiges über meine Ehe preiszugeben, um wiederum anderen zu helfen, die danach suchen. Dieser Blog ist mit meinem Mann abgesprochen und von ihm genehmigt worden, denn auch er sieht es als eine wichtige Sache an, darüber ehrlich zu berichten und sich nicht mit diesen Problemen zu verstecken.

Dies wird ein längerer Blog, also nicht erschrecken. Lieber etappenweise lesen. Eine Ehe über dreißig Jahre kann nicht in wenigen Sätzen reflektiert werden.

Mit 20 Jahren hatte ich überhaupt keine Ahnung von meinem Autismus. Ich kann mich nur erinnern, dass ich die Welt, in der ich lebte, immer als sehr anstrengend und falsch empfunden habe und meist in meiner eigenen lebte. Ich hatte keinen Freunde, keine wirklichen, mit denen ich ständig meine Zeit verbrachte. Und doch war ich in der Gesellschaft gut gelitten, weil ich immer fröhlich, positiv und voller Ideen war. Das machte viele neugierig, was es für mich wiederum anstrengend machte, denn ich erschöpfte ziemlich schnell, wenn ich mit vielen Leuten zusammen war.

Michael lernte mich auf einer Party kennen, zu der ich nicht wollte, denn ich verabscheute Partys immer schon. Doch mein Bruder fand, dass ich kurz nach dem Tod meiner Mutter und nun alleinlebend unbedingt unter Leute musste. Dabei mochte ich mein Alleinsein. Doch ich gab nach langen Bitten nach.
Auf der Party fiel ich direkt als Neue und „irgendwie anders“ auf und hatte große Probleme, die vielen fremden Leute, die auf mich zukamen, auszuhalten. Alles war durcheinander und laut. Nur Michael erregte meine Aufmerksamkeit, weil er einfach nicht viel sprach. Er forderte mich nicht auf, zu reagieren, sondern hielt sich still am Rande der Party. So kamen wir ins Gespräch. Michael ist stark introvertiert, ich extrovertiert. Es war klar, wer das Gespräch dominierte. Schon damals war ich stark analytisch veranlagt und „klopfte“ sämtliche Themen die mir wichtig waren ab, ob er zu mir passen würde: Musik, Bücher, USA, Job und Zukunftsdenken. In vielerlei Punkten fand ich Gemeinsamkeiten, so dass ich zuließ, ihn weiterhin zu treffen. Wir empfanden nie das Gefühl, uns als „Freund und Freundin“ darzustellen, sondern machten ab diesem Moment einfach vieles zusammen.

Ich hatte viele Wochen lang große Schwierigkeiten, körperliche Nähe zuzulassen und tat alles, um auszuweichen. Ich verdanke es Michaels Introvertiertheit und Geduld, dass wir zusammenblieben. Wäre er ein extrovertierter NT gewesen, hätte er mich wahrscheinlich zum Teufel gejagt. Michael gab mir die Zeit, die ich brauchte, um soviel Vertrauen zu fassen, dass ich eine allumfassende Partnerschaft zulassen konnte.

Ich bin von Natur aus ein sehr treuer und loyaler Mensch und für mich stand fest, dass ich mich nur einmal in meinem Leben für einen Partner entscheiden würde, wenn nicht gerade schlimme Gründe dazu führen sollten, die Partnerschaft zu beenden. So stand für mich fest, dass ich diesen jungen Mann heiraten und mit ihm Kinder kriegen würde. Ich sah das klassische Schema einer Ehe und ihrer Aufgaben vor mir, was mich sehr sicher machte. Wir heirateten nach nur neun Monaten.

Mit Michael heiratete ich gleichzeitig eine große NT-Familie, was hieß, dass ich mich in vielerlei Bereichen anpassen musste. Ich erlebte plötzlich, wie intensiv und oft sich diese Familie traf und gegenseitig half. Das kannte ich aus meiner Familie nicht in dieser Intensität. Doch da ich dazugehören wollte, begann ich mit einem Anpassungsprozess par exellance, der viel Kraft von mir abforderte. Dies alles hier darzulegen wäre zu viel, aber ich erinnere mich, dass ich immer wieder nach den Familientreffen erschöpft zusammenfiel. So viel Gerede, so viele Themen, die es mir schwer machten zu folgen. Nicht selten wurde ich ausgelacht, weil ich wieder einmal etwas falsch verstanden hatte. Das ließ mich oft dumm wirken und ich gab mir noch mehr Mühe, um gemocht zu werden.
Da ich ein sehr hilfsbereiter Mensch bin, erweiterten sich meine Hilfsangebote in der Familie. Es polierte mein Ansehen womöglich auf. Ich begann, meine nicht motorisierten Schwiegereltern überall hinzufahren, für sie da zu sein, sie immer zu besuchen, wenn ich mich in der Nähe befand, und immer zu lächeln. Ich wollte ihnen das Gefühl geben, gerne bei ihnen zu sein. Sie haben mich nie anderes kennengelernt. Es entstand in der Tat ein sehr herzliches Verhältnis. Ich beklagte mich nie, denn es war auch immer schön, dann, wenn es stattfand. Doch was war mit meinen Gefühlen vorher und nachher los?

Schon Stunden vorher, manchmal Tage, spürte ich diesen Widerstand in mir, wir ungern ich es im Grunde tat, weil es mir so schwerfiel. Dieser Trubel erschöpfte mich, eher er begann, doch ich hielt durch. Dafür fiel ich danach oft für ein bis zwei Tage energielos zusammen, je nachdem wie lang und aufwendig mein Einsatz war.
Familienfeiern wurden für mich zur Tortur! Und doch verlangte es meine Anpassung, die abzuhalten oder zu besuchen. Bei einer großen Familie, in der ich nun lebte, kein leichtes Unterfangen. Fast jede Woche wurde irgendwo irgendwas gefeiert. Ich sah mit Stress fast jedes Wochenende auf mich zurasen, sagte nichts und lächelte stets gutgelaunt. Was ich wirklich fühlte war ganz allein mein Problem.

Mein Mann erfreute sich sehr an diesem guten Verhältnis zwischen seinen Eltern, Geschwistern und mir. Aus seiner Sicht passte ich gut dazu. Das wiederum erfreute mich, und ich gab mir immer mehr Mühe. Doch wenn ich ehrlich bin und heute auf diese Zeit zurückblicke, wurde ich die meiste Zeit nur von einem Gedanken beherrscht: Durchhalten! Nur Durchhalten!

Da ich mich nie beklagte, konnte mein Mann nicht ahnen, wie sehr ich litt. Ich selbst nahm mein Leid nicht einmal als Leid war, sondern als Art Arbeit oder Schufterei im Leben. Ja, meine private Zeit empfand ich immer als wahre Schufterei! Ich kam so gut wie nie in die Erholung.

Vier Jahre nach unserer Hochzeit kamen die Kinder, die wir uns wirklich wünschten. Beide Jungs sind absolute Wunschkinder. Die Geburten waren beide sehr schwer, lang und schmerzhaft.
Michael war stets darum bemüht, uns immer gut versorgt zu wissen. Er war tüchtig, kam einer soliden Arbeit nach und ließ es uns an nichts fehlen. Das gab mir ein gutes und sicheres Gefühl. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Das war sehr wichtig. Er zweifelte nicht einen Tag daran, dass für mich etwas falsch im Leben lief. Wie auch?

Zwei Jahre später begann ich vom Tod zu träumen. Fast jede Nacht. Ich sah mich in meinen Träumen sterben und teilte es Michael mit. Heute kann ich nicht sagen, ob es bereits ein erstes Anzeichen von Autismus war. Ich fühlte mich in der Welt, in der ich lebte, wirklich sterben. Da dieser Traum nicht endete, begann es mir sehr schlecht zu gehen. Zusätzliche Schmerzen in der Brust ergaben zwei Jahren später, dass ich mit gerade 29 Jahren an Brustkrebs erkrankt war. Mein Immunsystem war zusammengebrochen und nicht mehr in der Lage, die wachsenden Krebszellen in den Griff zu bekommen. Eine OP befreite mich von Krebs und ich bemerkte, dass mit mir etwas passierte, was mich fortan von meinem Mann zu entfremden begann. Ich mied die körperliche Nähe immer mehr und gestand mir mehr Abstand und Ruhe vor der großen Familie ein. Das tat gut. Michael und ich schoben es auf die anschließende Therapie mit Chemo und Bestrahlung, doch mein Wunsch nach Zurückgezogenheit und Ruhe blieb, als die Therapien längst vorüber waren. Michael war ratlos und ich bemühte mich erneut um Anpassung. Da ich die einzige in der ganzen Familie war, die scheinbar anders fühlte, sah ich mich aufgefordert, wieder meine alte Rolle einzunehmen, doch Michael und ich gerieten immer öfter in Streit, denn meine Stimmung wurde immer gereizter. Irgendetwas lief mächtig falsch.

Unsere Ehe wurde immer mehr zu einer Art WG. Wir sahen unsere Aufgaben als Eltern darin, die Kinder großzuziehen und alles in Bewegung zu setzen, was ihrer Entwicklung guttat. Meine Rolle als Mutter funktionierte gut und ich fühlte mich sehr wohl und sicher darin. Meine Rolle als Ehefrau jedoch verlor sich. Ich konnte einfach nicht zwei Rollen gleichzeitig standhalten. Obwohl wir uns auf der einen Seite sehr mochten und liebten, gerieten wir auf der anderen Seite immer öfter aneinander. Eine Art Keil schien sich zwischen uns zu schieben und niemand wusste, woher dieser Keil kam. Ich habe es Michaels Geduld und seinem Bestreben nach Harmonie zu verdanken, dass wir jede Krise irgendwie meisterten. Hätte die Entscheidung allein bei mir gelegen, wäre unsere Ehe gescheitert. Für mich waren gewisse Grenzpunkte schneller erreicht, als bei ihm. Michael lebt in einer Grauzone, ich nicht. Bei mir gab es immer schon Alles oder Nichts. Damit bleiben gewisse Reibereien nicht aus. Meine Impulsivität und Ungeduld taten ihr Übriges.

Wir durchstanden sechs grenzwertige Krisen in unserer Ehe, die ich zum Schutze unserer Familie nicht aufführen möchte, doch heute kann ich sagen, dass es immer wieder etwas mit dem Schrei von meiner Seite nach einem anderen Leben zu tun hatte. Ich wollte ständig etwas verändern oder weg von Deutschland! Ich fühlte mich immer schon getrieben und konnte mit all diesen Anforderungen der Gesellschaft hier nicht leben! Das konnte mein Mann natürlich nicht nachvollziehen. Ich hatte nie ein richtiges Heimatgefühl verspürt, er dafür umso mehr.
Bei mir zeigte sich eine Erkrankung nach der anderen. Mit 40 Jahren litt ich bereits an drei Autoimmunerkrankungen und niemand wusste, woher sie rührten. Man diagnostizierte mir ständig Stress, aber ich war nicht in der Lage, den Stress abzubauen. Michael verstand oft nicht, warum mich gewisse Situationen so sehr mitnahmen. Er ließ vielen kaum Beachtung zukommen und versuchte mich immer wieder zu beruhigen. Doch es nützte nichts. Ich nahm viele Situationen ganz anderes wahr als er. Extremer.

Als sich die vierte Autoimmunerkrankung ankündigte, brach ich das bisherige Leben ab. Unsere Ehe stürzte in die tiefste Krise, die wir je erlebt hatten. Zum ersten Mal entschied ich, mich für wenige Wochen von meinem Mann zu trennen und verreiste. Nach dreißig Jahren Ehe spürte ich zum ersten Mal wieder das wohltuende Gefühl von Alleinsein. Das machte mir Angst. Es machte uns beiden Angst. Dies war keine klassische Trennung oder das Aus einer Ehe, weil wir uns auseinandergelebt hatten, nein, es war etwas anders, was unsere Ehe gefährdete.

Ich hatte vor einigen Monaten durch Zufall von dem Asperger Syndrom gehört und gelesen, was vieles in meinem Leben erklärte. Ich näherte mich der Vermutung, dass ich eine Betroffene sein könnte.
Michael und auch seine Familie konnten anfangs nicht verstehen, was passierte, doch Michael gab mir die Chance, mich immer mehr zu erklären. Das gab auch ihm die Chance zu erkennen, wo die Probleme, unter denen wir immer wieder litten, zu finden waren. Wir begannen stundenlange Gespräche zu führen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen oder gar zu streiten. Doch wir fanden im Gespräch immer wieder zusammen. Eine wichtige Handlung in dieser Zeit war die räumliche Trennung, indem ich ein eigenes Schlafzimmer bekam. Es gab mir erstmals das Gefühl, mich wenigstens nachts zurückziehen zu können. Sobald ich einen Menschen höre oder wahrnehme, kann ich nicht abschalten. Mein Leben in der Ehe hatte immer daraus bestanden, auf ständige Bereitschaft geschaltet zu sein. Wie ein Elektrogerät, bei dem das kleine Kontrolllämpchen ständig brannte und immer ein wenig Strom verbraucht. Meine Energie war dadurch ständig gefordert und floss nebenbei unverbraucht davon. Meine langjährige Schlaflosigkeit wurde besser und ich fand erste Momente der tiefen Ruhe.
Danach trennten wir ein wenig das Wohnzimmer, weil ich mir dort ein Arbeitszimmer einrichtete. Ich bekam das große Wohnzimmer, Michael ein großes Zimmer, was einer unserer Söhne hinterlassen hatte. Auch das gab uns die Möglichkeit, die veränderte Situation besser zu verkraften. Wir suchten Abstand, anstatt Nähe, um zu verarbeiten, was gerade mit uns passierte. Das war wohl unsere Rettung gewesen, denn der Abstand brachte uns gegenseitiges Verständnis und Verstehen.

Michael wusste bis vor drei Jahren nicht, dass er eine Autistin geheiratet hatte und ich wusste nicht, dass ich einen NT geheiratet hatte. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum unsere Ehe überlebte. Michael ist ein introvertierte NT, der vielleicht genau deswegen die richte Mischung für mich ist. Er lässt mich in einer Form der Geduld und Ruhe an seinem Leben teilhaben, die ich nicht besitze und ich lasse ihn an meiner Anderswahrnehmung teilhaben, die er nicht besitzt. Auf meine Frage, ob er vielleicht lieber mit einer NT-Frau verheiratet gewesen wäre, gab er folgende Antwort: „Nein, denn keine ist wie du, egal, wie anstrengend es war oder noch sein wird. Du bist so interessant anders, dass es nie langweilig mit dir wird und ich dich nie missen möchte“
Na, das ist doch mal ein Kompliment an eine Asperger-Frau!

Unsere Ehe hat überlebt! Wir planen nun in einem anderen Haus zu leben, weit weg von einer Reihensiedlung, was weit in der Natur liegt, damit ich die Ruhe bekomme, die ich brauche. Auch dort werde ich meinen Rückzugsort und viel viel Freiheit bekommen, denn Michael hat begriffen: je mehr Freiheit und Alleinsein er mir einräumt, desto näher bin ich ihm. Und wenn wir nun eine gemeinsame Zeit verbringen, dann ist sie intensiv und ehrlich!

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Der Perfektionismus 2 … es geht noch doller!

Irgendwie habe ich beim letzten Blog über Perfektionismus nicht alles niedergeschrieben, was ich sagen wollte. Das ergeht mir ständig so. Tage später fällt mir alles Mögliche dazu ein. So auch weitere Dinge zu diesem Thema.

Ich finde den Perfektionismus in vielen kleinen Dingen im Alltag wieder. Zum Beispiel beim Wohnungsputz:

Es beginnt damit, dass ich „wieder einmal“ das Wohnzimmer staubwischen muss, was ich gar nicht gerne tue… Das hat einen Grund und nichts mit Faulheit zu tun.
Also schiebe ich es erst einmal vor mich hin, bis a. der Staub wirklich gut sichtbar wird (!) oder b. sich Besuch ankündigt…, denn ich weiß, wenn ich damit beginne, taucht er auf – der teuflische Perfektionismus! Und der ist furchtbar anstrengend!
Wo andere mal eben mit dem Staubwischer durch die Ecken fegen, ein wenig saugen und putzen, beginnt bei mir ein wahrer Reinigungsakt von mehreren Stunden, denn ich kann nicht nur „ein bisschen“ putzen. Der „Kölsche Wisch“ ist mir ein Greul. Schon alleine der Gedanke, was ich alles wieder beim Staubwischen sichte, erschöpft mich. Meine Überwahrnehmung pflastert dann den Weg in die stundenlange perfekte Reinigung. Ich rücke Möbel, sauge sie komplett ab, wasche die Gardinen gleich mit, putze die Fenster, pflanze Blumen um, die es nötig haben, und jage dem kleinsten Staubkorn hinterher, der sich noch irgendwo versteckt hält. Danach ist das Zimmer wahrlich sauber! SAUBER! Wenn es ganz schlimm kommt, renoviere ich gleich die Wände mit oder streiche die Möbel neu an, um die kleinsten Kratzer noch zu beseitigen!

Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich übertreibe ständig beim Reinigen des Hauses, obwohl ich keinen Putzfimmel habe. Bekomme es einfach nicht hin, wie andere nur oberflächlich das Sichtbare zu beseitigen. Für mich ist „das Sichtbare“ so viel mehr. Ich denke, es hat tatsächlich mit meinem Filter im Kopf zu tun, der Wichtiges vom Unwichtigen nicht unterscheiden kann. Dabei dürfte es kein Problem sein, wenn man ein „Mensch der Regel“ ist. Jede Woche Staubwischen und alle drei Monate Grundreinigung. Das klingt doch prima … und so einfach. Aber es gibt Regeln, an die ich mich nicht halten kann. Bei mir gibt es nur eine Regel: Alles oder Nichts!

Hier noch ein Beispiel: … wehe ich gehe in den Garten. Wer denkt, ich würde nur ein wenig Unkraut jäten, Rasen mähen und die Erde harken, der irrt! Wenn ich im Garten fertig bin, ist er vollkommen neu gestaltet! Es kam früher vor, dass ich direkt neue Gehplatten legte oder ganze Bäume ausbuddelte!! Je nachdem, wie stark mich der Perfektionismus beherrscht. Ich muss mich jedes Mal stark zusammenreißen, um diesem Drang zu widerstehen.

Das Autowaschen: Ich will es nicht ausführen … Wenn ich es zum Waschen komplett auseinandernehmen könnte, würde ich es tun!

Nur oberflächlich erledigte Dinge hinterlassen bei mir oft das Gefühl der Unzufriedenheit. Und Unzufriedenheit löst in mir Stress aus. Das ist der Grund, warum es mich immer wieder große Überwindung kostet, etwas zu erledigen, was anderen mit Leichtigkeit von der Hand geht. Es passiert, dass mich das bloße Denken daran schon derart erschöpft, dass ich keine Kraft finde, etwas anzufangen. Denn ich weiß von vorherein, wie anstrengend es ist, mit dem Teufel der Perfektion einen Kampf auszufechten…
Ich muss mich immer wieder zwingen, mich nur auf bestimmte Erledigungen einzulassen, weil mir diese Gabe nicht natürlich mitgegeben ist.

(Ab jetzt kann man meine Blogs auch zusammengefasst als eBook und  Printausgabe lesen)
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Der Perfektionismus – ein kleiner Fehler und alles ist hin

Der Perfektionismus ist einer meiner größten Feinde in mir. Er zeigt sich besonders dann, wenn es um mir wichtige Dinge geht. Bei kleinen Alltagserledigungen oder unbedeutenden Situationen meldet er sich nicht, aber wehe, es geht um eine wichtige Sache! Dann macht er mir das Leben zu Hölle.

Wenn ich jemandem helfe, der mir sehr wichtig ist, dann gebe ich mir besonders viel Mühe und versuche bis ins kleinste Detail alles richtig zu machen und nichts zu vergessen. Das bedeutet denken, denken, denken. Wo kann ich noch was machen oder verbessern? Das funktioniert natürlich nicht, denn es gibt an jeder Situation etwas zu verbessern, doch ich denke solange darüber nach, bis ich es finde. Eine never ending story. Es fühlt sich an, als lege ich es darauf an, etwas zu finden, um mich zu ärgern oder ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Als würde ich mir ständig beweisen wollen, dass nichts gut genug ist, was ich mache. Ich frage mich, ob das eine Form der Selbstbestrafung ist, die niemals aufhört.

Ich leide schon von Kindheit an unter Perfektionismus.
Immerzu bekomme ich von anderen zu hören, dass alles in Ordnung sei, doch es kommt nicht in meinem Verstand an. Ich nehme diese Worte gar nicht wahr. Mein Verstand hat für den Begriff „In Ordnung“ oder „erledigt“ keine Schublade. Nichts ist in Ordnung oder erledigt, solange mir noch etwas einfällt, was ich verbessern könnte. Doch wie stelle ich diese ewige Suche ab?

Bei meiner Arbeit ist es besonders schlimm. Ich schreibe viele und lange Texte für die Öffentlichkeit, in denen immer Fehler oder falsche Formulierungen zu finden sind, selbst wenn sie von einem Lektorat bearbeitet wurden. Sobald ich nur eine kleinen Satz finde, der mir nicht mehr gefällt oder worin ich einen Fehler übersehen habe, verliert die ganze Arbeit ihren Wert. Ich habe null Toleranz und mich überkommt der Drang, den ganzen Text neu zu überarbeiten. Das ist ein schlimmes Gefühl. Ich weiß, dass es falsch ist. Am schlimmsten ist meine Eigenart, dass ich jeden Tag die Dinge anders betrachte. Was mir heute richtig erscheint, ist morgen falsch. Mich plagen schlaflose Nächte, Wut und Autoaggressionen. Immer wieder denke ich, was andere wohl über mich denken, wenn sie die Fehler entdecken. Genau das lässt in mir oft das Gefühl entstehen, dass ich nie gut genug bin. Eine nahezu unerträgliche Form des Selbst-Denunzierens. Liegt es daran, dass meine Anpassung an die Gesellschaft künstlicher Natur ist? So kommt es mir vor.

Mir erscheint in dieser Welt vieles künstlich und nur mit großer Mühe erreicht. Ich versuche mir ständig vorzustellen, was andere von mir erwarten könnten, weil ich es einfach nicht abschätzen kann. Ich weiß nicht, wann der Gesellschaft etwas langt, wann sie etwas akzeptiert oder honoriert. Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung, dass meine Grenze weit höher gesteckt ist als bei vielen anderen.

Ich muss mich immer wieder neu dazu zwingen zu lernen, dass irgendwann Schluss ist. Dass keine Arbeit, keine Situation, keine Sache und kein Mensch perfekt sind. Das theoretische Wissen ist da, aber warum kann ich es auf meiner Festplatte im Gehirn nicht endlich einmal als festes Programm installieren?
Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich die Menschen, die entspannt und zufrieden nach der Arbeit nach Hause gehen und abschalten können, beneide oder nicht verstehe. Bei mir gibt es kein Abschalten. Nur selten erlange ich ein Level, bei dem ich mich kurzzeitig zufrieden oder entspannt fühle. Ich muss mir oft bewusst verbieten weiter über eine Sache nachzudenken. Kann also nur schwer loslassen und etwas ad acta legen. Doch ich muss mich zwingen. Jeden Tag neu.

Ich bin oft sehr dankbar, wenn man mich ausbremst oder mir mitteilt, dass alles so in Ordnung ist wie es ist. Ich benötige von fremder Seite oft eine Hilfe, um meinen Perfektionismus zu stoppen.

Das ist der Grund, weshalb ich mich immer mehr von vielem zurückziehe. Es dient meinem Schutz. Der ist wichtig. Zu viele Programme gleichzeitig zu starten macht den Computer eben langsamer. Und langsamer werden bedeutet für mich noch mehr Denken und Stress. Mittlerweile habe ich es ganz gut im Griff, nur noch wenige Menschen und Aufgaben um mich zu scharren, die mir wichtig sind, so dass ich nicht jeder Angelegenheit bis ins kleinste Detail nachlaufe. Ich kann immer öfters Anfragen ablehnen oder mich zurückhalten, wo ich früher unaufgefordert meinen Einsatz anbot. Das tut gut. Das bringt auch mein perfektionistisches Denken etwas zu Ruhe, doch es stoppt nicht meinen Perfektionismus. Diesen Feind werde ich nie los, aber ich kann mich mit ihm arrangieren lernen.