Archiv für den Monat März 2015

Das Alleinsein bedeutet für mich „Leben spüren“

Ich trenne in diesem Beitrag Alleinsein von Einsamkeit. Über Einsamkeit schrieb ich bereits.

Einsamkeit ist ein Gefühl, unter dem man trotz Partner, Familie oder Freunde leiden kann. Wogegen Alleinsein eine Situation schafft, in der man sich ohne weitere Personen zurückzieht und keine Reize von dieser Seite mehr erfährt.
Der Begriff „Alleinsein“ ist bei vielen NTs mit Angst besetzt und wird mit Einsamkeit verbunden. Das ist bei mir völlig anders. Ich werde es erklären:

Alleinsein bedeutet, mich an einem Ort (Zimmer, Natur) zu befinden, an dem sich kein anderer aufhält, dem ich Aufmerksamkeit schenken müsste. Sobald sich eine Person in meiner Nähe aufhält, mit der ich verbunden bin (Partner, Familie, Freund …), kreisen meine Gedanken um diese Person. Ich nenne das „Fixum“.

Mein Fixum funktioniert wie ein Motor. Man stelle sich vor, man sei ein Auto in einer Garage. Der Motor ist aus, also kalt, und der Wagen ruht in akustischer Stille. Nun setzt sich morgens ein Fahrer in diesen Wagen und dreht den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor reagiert und setzt viele mechanische und technische Abläufe in Gang. Es entstehen Geräusche und Unruhe. Der Fahrer bestimmt die Fahrweise (ruhig, hektisch, aggressiv), wohin der Wagen lenkt, wie schnell er fahren soll und wo er ankommen will.
Nun projektiere ich diese Situation auf mich:

Ich bin sinnbildlich der Wagen.
Wenn ich allein in meinem Zimmer bin, kommen meine Gedanken zur Ruhe. Je länger ich allein bin, desto größer wird die Ruhe in mir. Es entspannt mich und schenkt mir neue Energie. Ich spüre das Leben.
Nun nähert sich eine Person und betritt mein Zimmer. In diesem Moment dreht derjenige den „Schlüssel in meinem Zündschloss“. Er startet meine Gedanken, indem ich auf „Aufmerksamkeitsmodus“ schalte und setzt Abläufe in mir in Gang. Ich konzentriere mich sofort darauf, was derjenige von mir will oder erwartet und spüre, wie mein Gedankenmotor heiß läuft. Es entstehen Geräusche und Unruhe in mir.
Bis hierhin ist es nichts Absonderliches, weil es jedem Menschen so geht. Da sich bei mir aber die Leitungen für die soziale Interaktion immer nur über „Umleitungen“, also viele zusätzliche Wege, abrufen lassen, läuft mein Motor viel lauter und stärker, als bei anderen. Es hört sich an, als wenn der Fahrer den Motor aufjaulen ließe. In mir entstehen Hitze und volle Konzentration. Ich spüre kein Leben mehr in mir.
Ich verlasse mich selbst, wende mich dieser Person zu und versuche herauszufinden, ob sie ruhig, hektisch oder aggressiv ist. Dementsprechend passe ich meine Stimmung an. Ich werde von dieser Person „gesteuert“. Sie bestimmt, wie schnell ich fahre, wohin und wo ich ende.
Wo liegt nun der Unterschied zu Menschen, die keinen Autismus haben?

Bei mir liegt er darin, dass ich diesem Motor keine Eigenständigkeit geben kann. Er hat kein spürbares Leben für mich. Ich kann ihn nicht abwürgen, ausschalten oder anders steuern. Meine eigenen Wünsche verkriechen sich irgendwo in meinem Inneren und lassen sich von mir nicht mehr spontan abrufen. Meine Verbindung von Körper und Geist ist in diesem Moment gestört. Ich stehe außerhalb meiner Persönlichkeit. Erst Stunden später finde ich die Reaktion in mir, die angemessen wäre. Doch solange ich sie nicht finde, lasse ich das Recht des Fahrers gelten.

Nun zurück zum Alleinsein.
Wenn ich alleine bin, schmeißt niemand meinen Motor an außer mir. Dann bestimme ich die Geräusche und Fahrweise. Ich werde nicht fremdbestimmt. Das beschert mir Sicherheit und Wohlgefühl.
Deswegen ist es wichtig, dass man mir immer wieder zugesteht, allein zu sein, ohne zu hinterfragen warum und weshalb. Es tut mir einfach gut und ich kann mich zurückgezogen komplett entspannen. Meist schreibe oder lese ich oder höre Musik. Dann spüre ich das Leben.
Das schenkt mir Energie, meinen Motor wieder von anderen starten zu lassen.

Wenn Partner, Freunde oder Familie eines Aspergers dieses Prinzip einmal begriffen haben, werden sie mit großer Freude diesem Menschen mehr Möglichkeiten des Alleinseins einräumen. Damit machen sie ihn sehr glücklich und erfahren große Dankbarkeit von ihm.
Zumindest ist es bei mir so!

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Verbindung verloren

Ich bin mal wieder an einem Punkt angelangt, an dem ich kaum Verbindung zu meinen NT-Mitmenschen draußen aufbauen kann. Diese Verbindung sieht bildlich wie eine Brücke aus. Bestimmte Komponenten müssen stimmen, damit ich die Verbindung aufrechterhalten kann. Die Brücke muss stabil (mit Vertrauen) gebaut und am anderen Ende, also dem Empfänger, solide verankert sein. Manchmal gelingt mir das, aber meistens ist es nur von kurzer Dauer.

Was ist es, das meine Brücke immer wieder zusammenbrechen lässt? Warum verliere ich ständig die Verbindung, die eben noch so gut funktioniert hat? Ist es meine Übersensibilität?

Ich kann nicht leugnen, dass mich bestimmte Aussagen verletzen oder schlichtweg nerven, aber ich bin inzwischen in der Lage, einiges abprallen zu lassen. Häufen sich jedoch Aussagen, beginnt meine Brücke zu bröckeln. Doch was passiert, wenn meine ganze Verankerung auseinanderbricht? Dann fühle ich mich allein gelassen – verlassen. Die Verankerung fühlt sich gut für mich an, doch wenn sie weg ist, entsteht tiefe Einsamkeit in mir. Wie sieht diese Einsamkeit aus?

Bildlich gesehen krümmt sich meine Seele wie ein Embryo zusammen und zerdrückt mein Herz. Es fühlt sich wie eine Erstarrung an. Ich verspüre einen starken Druck, den man Schmerz nennen könnte. Es schmerzt jedoch nicht so wie ein Zahnschmerz oder Ohrenschmerz. Dabei sind Nerven betroffen. Einsamkeit trifft aber keine Nerven bei mir. Sie drückt schlichtweg mein Herz zusammen. Meine Atmung strengt mich an und ich spüre nichts als Kälte und Leere. Und doch fühlt es sich nicht wie eine Depression an. Ich bin nicht traurig oder verliere meinen Lebensmut. Ich fühle mich nur alleine auf einer kleinen Insel oder hinter einer Glaswand.

Welche Begebenheiten zerstören diese Brücke?

Es ist die ewige Kritik, dass ich immer noch etwas an meinem Verhalten verbessern soll.
Ich weiß, dass sich alle Menschen gegenseitig kritisieren und einander verändern wollen. Doch ich kann mich nicht mehr verändern. Egal, was ich tue, ich fühle immer gleich und besitze immer die gleichen Einstellungen und Ansichten, dabei lerne ich den ganzen Tag, um zur Gesellschaft dazuzugehören. Greift derjenige, zu dem ich eine Brücke gebaut habe, aber bestimmte Reaktionen oder Verhaltensweisen bei mir ständig an, die ich nicht verändern kann, löst er damit die Verankerung auf. Das Vertrauen schwindet. Einsamkeit kommt auf. Traurigkeit entsteht. Verlassenheit. Kälte. Die Glaswand wird wieder sichtbar, ich schließe mein Fenster und die Brücke bricht ein.

Ich sitze in der kalten Einsamkeit und frage mich, ob es meine Schuld ist. Ich suche nach Ursachen und Gründen bei mir, und in der Tat aus der Sicht desjenigen, zu dem ich die Anlegestelle gebaut habe, bestätigt es, dass ich allein es bin, die die Brücke abgebrochen hat. Bin ich das? Warum breche ich sie ab? Warum arbeite ich nicht weiter an der Stabilität der Brücke?
Meine Antwort:

Weil ich inzwischen müde werde, diese Brücken ständig aufrecht zu erhalten. Ich bin müde, mich ständig nur von meiner Seite aus anzupassen. Das ist ein Grund, warum ich mich immer öfters in die Einsamkeit zurückziehe. Wenn ich bemerke, dass derjenige (oder auch diejenige) nicht in der Lage ist, mich so zu nehmen wie ich bin und mich ständig infrage stellt und ich nachgeben und mich verteidigen muss, erschöpft mich das in einem Maße, dass ich es nicht mehr aushalten kann. Ich bin nicht in der Lage, mich ständig zu verteidigen, wenn ich etwas nicht kann. Es erschöpft mich zusehends immer mehr. Dann ziehe ich lieber die Einsamkeit vor und lasse mein Fenster geschlossen. Die Einsamkeit verletzt mich nicht und fordert mich nicht ständig heraus, mich zu verteidigen. Sie ist zwar kalt, aber erträglich. Das ist der Moment, in dem ich viel in die Natur gehe. Sie ist warm und stellt mich nicht infrage. Dort tanke ich auf.

Was wünsche ich mir?

Ich wünsche mir eine Brücke zu Menschen, die mich auf ganzer Linie so nehmen, wie ich bin. Die mich nicht infrage stellen oder verändern möchten. Ich möchte auch niemanden verändern.
Wenn ich darum bitte, allein gelassen zu werden, möchte ich allein gelassen und nicht gefragt werden, warum. Wenn ich allein bin, kann ich störungsfrei und entspannt leben. Diese Antwort müsste ausreichen. Das benötige ich, um mein Fenster wieder zu öffnen und mich auf die Welt da draußen einzulassen.

Alleinsein ist eine Wohltat für mich. Es fühlt sich gesellig und energetisch an. Ich verspüre inspirierende Momente und tiefe Freude, tiefe Gefühle, tiefes Glück.

Wie sähe mein perfektes Leben aus?

Einer Arbeit nachzugehen, die ich liebe. Diesen Punkt habe ich mir bereits erfüllt, indem ich freiberuflich Bücher schreibe und dadurch unabhängig bin.
Zur wohnlichen Situation: Ich benötige die Nähe zu einem Menschen, zu dem ich eine stabile Brücke gebaut habe und der mir hilft, sie zu erhalten. Ein Haus mit getrennten Wohneinheiten gibt mir das Gefühl von ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten und doch das Gefühl, jederzeit eine Person meines Vertrauens um mich zu wissen. Gegenseitige Hilfe muss sich für mich in einer Balance befinden. Dann ist die Brücke stabil.
Wichtigste Baumaterialien sind:

Ehrlichkeit, Offenheit, Transparenz, Fairness und Respekt

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Leipziger Buchmesse – konträre Gefühle, Freude und Stress zugleich

Dieser Blog wird etwas anders ausgerichtet sein, als meine anderen, und doch wird er mit meinem Asperger Syndrom zu tun haben.
Der Bereich meiner Arbeit ist ebenso von der Symptomatik des Autismus‘ betroffen wie mein Privatleben und gehört ebenfalls zum Gesamtbild meiner Probleme im Leben.

Mein Spezialinteresse ist die Psychologie des Menschen – also die Verhaltensweisen, bzw. Verhaltensstörungen der Menschen. Mich interessieren die Reaktionen der Menschen auf bestimmte Geschehnisse – ihre Hintergründe und Ursachen.
Vor 20 Jahren begann ich mein Spezialinteresse in einen Nebenjob zu verwandeln, indem ich Bücher darüber schrieb. Geschichten, die von Menschen handelten, die als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren. Damit hatte meine Buchreihe ein Thema bekommen: Die Opfer-Täter-Theorie. Da ich ein großer Fan von Thrillern bin, kombinierte ich den sozialkritischen Text mit „the worst case“, also dem schlechtestem Fall. Das bedeutet, das Opfer wird in meinen Geschichten emotional so weit getrieben, bis es mordet.

Vor fünf Jahren sind meine Bücher von der Öffentlichkeit entdeckt und in die eBook Bestsellerliste von Amazon katapultiert worden. Damit begann sich mein Nebenjob in einen Vollzeitjob zu verwandeln. Seit 2011 schreibe ich jedes Jahr ein Buch und bin regelmäßig als freiberufliche und lesende Autorin auf der Leipziger Buchmesse zu finden.

Ich bin extrovertiert und daher sollte man annehmen, es würde mir nichts ausmachen, mich in den Trubel einer Messe zu stürzen.
Irrtum!
Ich bin sehr öffentlichkeits- und fotoscheu. Der einzige Grund, warum ich eine Buchmesse bewältigen kann, ist, dass ich dort ausschließlich über mein Spezialthema referieren kann. Dieser Punkt ist mein Anker und gibt mir Balance in all dem Stress, der mir dort begegnet.
Zum Stress gehören die vielen fremden Menschen und Situationen, die unvermeidbar sind. Hinzu kommt der Geräuschpegel, der es mir fast unmöglich macht, mit anderen Menschen ein konzentriertes Gespräch zu führen. Die Reizüberflutung, die mich wie eine Welle überrollt, ist enorm. Und doch gehören diese Auftritte in der Öffentlichkeit zu meiner Arbeit. Alle Menschen sind sehr nett und freundlich, doch ich stelle mich bereits viele Tage zuvor durch extreme Ruhe auf diesen Stress ein. Ich bereite mich auf Lesung, Fragen, Gespräche, Fotos und Interviews vor. Ich kann mich allerdings nicht länger als drei bis vier Stunden auf der Buchmesse aufhalten. Das ist sehr schade, aber nach dieser Zeit falle ich in eine tiefe Erschöpfung und muss mich hinlegen. Die vielen Eindrücke, die mich erreichen, beschäftigen mich oft noch tagelang und rauben mir den Nachtschlaf. Ich komme dann auch tagsüber kaum zu Kräften. Doch das sieht niemand. Alle Menschen erleben mich als freundlich, kommunikativ und gut gelaunt. Das bin ich auch in der Öffentlichkeit, denn ich bin trainiert.

Ich will kurz darüber berichten, wie die letzte Buchmesse (2015) ablief:
Ich wurde von meinem Verlag am Freitag zu einem „Meet & Greet“ der Autoren eingeladen. Am Samstag wurde ich zu einem netten Abendessen mit Autoren und Verlagsbetreuern eingeladen. Am Sonntag wurde ich zu einer Lesung mit Signierstunde eingeladen. Zudem wurde ich am Sonntag zusätzlich von meinem vorherigen Verlag zu einem Autorentreffen eingeladen.
Auf mich kamen demzufolge an drei Tagen Termine auf der Leipziger Buchmesse zu.
Wie sollte ich auf all diese netten Einladungen nun so reagieren, dass man mich verstand und nicht als desinteressiert wahrnahm? Es lag auf der Hand, dass ich unmöglich all diese Termine voller Energie wahrnehmen konnte. Also musste ich eine Entscheidung treffen. Und die sah wie folgt aus:

Ich informierte meine Verlagsbetreuer über meine Probleme und erklärte, dass ich mich gerne auf einen Tag konzentrieren würde. Wenn ich am Freitag zum „Meet & Greet“ und Samstag dem Autorenessen erschiene, würden mich die vielen Eindrücke schlaflos machen und mir zudem durch die vielen Gespräche meine Stimme zum Vorlesen rauben. Das würde die Lesung gefährden, den wichtigsten Teil meiner Arbeit – die Werbung. Also entschied ich mich, nur zu der Lesung zu erscheinen und dort für drei Stunden voller Konzentration für das Publikum da zu sein.
Die Verlagsbetreuer reagierten sehr verständnisvoll und begrüßten mich am Tag der Lesung sehr freundlich. Sie unterstützten meinen Auftritt mit viel Aufmerksamkeit und forderten mich nicht zusätzlich zu nicht abgesprochenen Aktionen auf. Ich konnte viel Publikum gewinnen, eine gute Lesung halten und viel Aufmerksamkeit beim Signieren aufbringen. Nach zwei Stunden verließ ich den Stand und traf mich mit einer sehr netten Kollegin zu einem entspannten Gespräch, um mich „herunterzuholen“. Danach besuchte ich den Stand meines anderen Verlages, der gerade ein Autorentreffen veranstaltete. Ich sammelte meine letzte Konzentration und konnte dort nur eine Stunde verbringen, bis ich bemerkte, dass sich alles um mich herum drehte. Ich konnte den Gesprächen nicht mehr folgen und musste mich verabschieden. Einige wirkten irritiert, als ich meinen Besuch so plötzlich abbrach. Genau das sind die Momente, in denen andere den Eindruck gewinnen, ich wäre arrogant. Bin ich aber nicht. Ich bin schlichtweg erschöpft. Doch ich kann es nicht jedem erklären.
Das sind Momente, in denen Asperger von der Gesellschaft missverstanden werden. Eine Autoren-Kollegin schrieb mich einen Tag später an, dass sie mein Verhalten unangemessen und unhöflich gefunden habe. Und wieder begann ich mich zu erklären.

Selbst als freiberuflicher Mensch sind mir häufiger Grenzen gesetzt, als mir lieb ist. Ich laufe jedes Mal, wenn ich meine Probleme zu erklären versuche, Gefahr, dass sich Menschen von mir zurückziehen. Manchmal gefährdet es wichtige Vertragsabschlüsse oder Besprechungen, die ich nicht wahrnehmen kann. Doch ich bin stets bemüht, verantwortungsvoll mir gegenüber zu handeln. Die erweist sich gleichzeitig als verantwortungsvoll dem Anderen gegenüber. Was nützt es, Dinge zu versprechen, denen ich nicht nachkommen kann?

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Trauer

Viele Asperger berichten, dass sie nicht so trauern können, wie andere es tun. Mir geht es genauso.
Wenn jemand verstirbt, kann ich in dem Moment, in dem andere Menschen Trauer empfinden, nur eine Form der Gefühlstaubheit wahrnehmen. In mir regt sich nichts. Ich fühle nichts, ich rede nicht und ich reagiere auf nichts, sondern erledige meine praktischen Alltagsaufgaben weiter, als wäre nichts geschehen. Ich bin die Person, die am Geistesgegenwärtigsten eine Beerdigung organisieren kann, ohne emotional zusammen zu brechen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen, will ich den Tod meiner Mutter schildern.

Wie bereits im Blog „Fernweh – die ewige Flucht“ erwähnt, verstarb meine Mutter an ihrem dritten Suizidversuch in einer offenen psychosomatischen Klinik. Sie hatte sich im Badezimmer der Abteilung in der Nacht von Sonntag auf Montag an ihrem Rockgürtel erhängt. Um 4:00 Uhr morgens schickte die Klinik ein Eilschreiben an meinen Bruder. Der rief mich um 7:30 Uhr in meiner Ausbildungsstelle im Kindergarten an. Ich war damals 19 Jahre alt.

Die Nachricht von dem Tod meiner Mutter hatte mich in keiner Weise erschüttert. So ging ich zu meiner Chefin und teilte ihr kurz mit, dass ich heim müsse, weil sich meine Mutter soeben umgebracht habe. Dann fuhr ich zu meinem Bruder und wir erledigten zusammen mit meinem Onkel die Gespräche in der Klinik und mit dem Bestattungsinstitut. Während dieser Zeit hatte ich kein Empfinden, zumindest kann ich mich an nichts erinnern. Das war kein Schock, sondern ist eine ganz normale Reaktion in mir.

Da ich auf Todesfälle, die in meiner unmittelbaren Umgebung (Familie, Freunde) passieren, nicht spontan reagieren kann, tut sich auch nichts. Ich stecke in einer „Leerkammer“. Das kuriose am Todesfall meiner Mutter war, dass am Tag der Beerdigung der Fotograf in den Kindergarten kam und ich Wert darauf legte, von ihm abgelichtet zu werden. Das Foto besitze ich noch heute. Es zeigt mich fröhlich und unbeschwert. Kurz danach begleitete ich meine Mutter im Sarg zum Friedhof.
Was war passiert, dass ich so reagierte?

Ich hatte schon viele Tage vorher die Ahnung gehabt, dass es passieren würde. Solche komischen Vorahnungen setzen sich häufig bei mir in Gang und bestätigen sich oft. Es waren nicht nur die Bemerkungen meiner Mutter, dass sie am Ende ihrer Kraft sei, sondern mein unbeirrtes Gefühl, dass ich sie bald verlieren würde. Um dem entgegen zu wirken beschloss ich, meine Ausbildung für ein Jahr zu unterbrechen und sie auf eigene Verantwortung aus der Klinik herauszuholen. Es schien mir damals die einzige sinnvolle Lösung zu sein, da man ihr dort seit Monaten nicht mehr helfen konnte. Ich wollte sie von morgens bis abends beaufsichtigen, mit ihr viel in die Natur gehen und die Ernährung auf gesunde Kost umstellen. Meiner Meinung nach wirkt das am besten gegen Depressionen und nicht dieses ganze therapeutische Zeugs und Tablettenfutter. Meine Mutter hatte in den letzten Wochen nur noch von Pillen und Schokolade gelebt.
Dann passierte das Fatale: Sie erhängte sich exakt an dem Tag, als ich sie heimholen wollte. Es hatte ihre Depression vielleicht zusätzlich verstärkt, dass ich nun für sie meine Ausbildung unterbrechen würde. Diesen Zusammenhang habe ich erst viele Jahre später realisiert, weil ich nach ihrem Tod über Verhaltensstörungen zu lesen begann.

Ich besitze eine Art zu denken, die mir oft andere und unverständliche Gefühle beschert.
Nach dem Tod meiner Mutter setzte sich plötzlich ein merkwürdiges Verhalten von mir in Gang. Ich begann mich Wochen nach ihrem Tod zu bestrafen, indem ich mir verbot, in einem Bett zu schlafen. Ich schlief auf dem kalten Fußboden, um mich für mein Versagen zu quälen. Das mag merkwürdig klingen, aber ich neigte schon in meiner Jugend zu einer merkwürdigen Form der Selbstmarterung. Ich verbrachte unzählige Nächte auf dem Fußboden und hörte auf zu essen. Wenn mich im Kindergarten die Köchin nicht zusätzlich bekocht hätte, wäre ich wohl magersüchtig geworden. Ich erlaubte mir nichts mehr außer zu funktionieren. Ich litt monatelang an einer Amnesie, vergaß Kinderlieder, Spiele und sogar die Namen der Kinder, mit denen ich täglich arbeitete. Alles war weg.
Vielleicht war es auch meine Art zu trauern. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es nicht normal war.

Wenn ich heute zu Beerdigungen gehe, wirke ich oft sehr ernst und kühl, aber wenn ein „Muttermensch“ beigesetzt wird, dann breche ich im Moment der Sarg- oder Urneneinlassung in das ausgehobene Grab zusammen. Immer wieder erlebe ich ein Déjà-vu der Beerdigung meiner Mutter, bei der ich nicht trauern konnte. Ich weine für sie jedes Mal bei anderen Beerdigungen. Es ist wie eine lebenslange Trauer, die ich verspüre, weil ich ihren Tod bis heute nicht verarbeitet habe.

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