Verstummung – selektiver Mutismus

Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel man über sich erfährt, wenn man mit anderen Betroffenen ins Gespräch kommt oder deren Lebensgeschichte liest.
Als ich zum ersten Mal in einem Buch von Janina Bürger über selektiven Mutismus las, wurde ich wieder einmal aufmerksam.

Hier eine zusammengefasste Erklärung von Wikipedia:
Man bezeichnet selektiven Mutismus als eine psychische Störung, wenn die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist, obwohl keinerlei Sprachstörung im herkömmlichen Sinne vorliegt, sondern ein zeitlich begrenzter, angstbedingter Sprechabbruch in bestimmten sozialen Situationen oder in Anwesenheit unbewusst ausgewählter Personen. Das Schweigen kann auch ohne Therapie überwunden werden.

Genau wie Janina Bürger es in ihrem Buch beschreibt, beginnt auch bei mir diese Verstummung, wenn großer psychischer Stress vorausgeht. Ich möchte dies gerne anhand eines Beispiels veranschaulichen.
Bei mir spielt sich im Falle einer Verstummung folgendes ab:

Es entsteht eine Situation, die mich sehr überfordert oder verletzt und die ich nicht verarbeiten kann. Ich durchlebe, wie bereits mehrmals erwähnt, oft das Gefühl, alleine für alle Probleme zuständig oder an allem Schuld zu sein. Dies überfordert mich und macht mir ständig Angst. Diese Angst wendet sich nach innen und verkrampft meinen Bauch und meinen ganzen Brustkorb. Wenn ich dieses Gefühl herannahen spüre, war ich vorher in einer sehr schlimmen Situation, die Ängste in mir freisetzt. Ich bin nicht in der Lage, in diesem Moment darüber zu reden, weil ich keine passenden Worte für meine Gefühle abrufen kann, empfange also keine Signale für ein Gespräch. Ich beginne zu verstummen. Wenn mein Mann nachfragt, was los sei, sage ich: „Geht nicht.“ Das sind meine letzten Worte, die ich gerade noch aussprechen kann, dann ist die Verstummung vollkommen. Ich bekomme Angst davor, dass weitere Fragen an mich gerichtet werden, die ich nicht beantworten kann und ich leide unter starkem Druck. Zusätzlich setzt sich eine Autoaggression in Gang, also eine gegen mich gerichtete Aggression, und stürzt mich in eine tiefe Depression. Die spielt sich wie folgt ab:

Ich ziehe mich in mein Schlafzimmer zurück, egal zu welcher Tageszeit, verdunkle das Zimmer, lege mich voll bekleidet in Embryohaltung (zusammengerollt) ins Bett und erstarre in dieser Haltung. Mein Körper beginnt trotz Kleidung und warmer Bettdecke auszukühlen, und ich durchlebe starke Zitterzustände, Krämpfe und die totale Verstummung. Zum Teil laufen mir Tränen aus den Augen, ohne dass ich das Gefühl verspüre weinen zu müssen. Das ist wohl der Druck, den ich loswerden muss. In meinem Kopf baut sich ein Schlachtfeld auf, und ich beginne die Situation, die mich in diese Lage gebracht hat, tausendfach zu verteufeln. Wut und Zorn gegen mich selbst durchströmen meinem Körper, und ich kann kein Wort reden. Es ist mir sehr unangenehm, wenn zu dieser Zeit jemand das Zimmer betritt und nachfragt, was los sei oder wie es mir geht. Ich befinde mich in vollkommender Erstarrung und bin nicht in der Lage eine Antwort zu geben. Dieser verkrampfte Zustand hält zwischen zwei und zehn Stunden an, je nachdem wie schlimm die nicht verarbeitete Situation auf mich gewirkt hat. Nach einiger Zeit beginnt sich diese körperliche und geistige Verkrampfung von ganz allein zu lösen, so dass ich dieser Art Depression entkommen und das Zimmer wieder verlassen kann. Die Verstummung endet und ich bin in der Lage, Worte zu finden und mich mitzuteilen. Anschließend bin ich derart erschöpft, dass ich viele Stunden lang nicht arbeiten, essen oder Sonstiges tun kann. Es fühlt sich an, als hätte ich zwei Tage Schwerstarbeit hinter mir.

Mittlerweile kennt meine Familie diese Reaktion von mir und lässt mich weitgehend in Ruhe. Dieser Zustand holte mich bisher alle zwei bis drei Monate einmal ein, doch im Zuge der Veränderung, die derzeit in meinem Leben stattfindet, wird es weniger. Ich vermeide immer mehr Kontakte in die Öffentlichkeit und meide Menschen, die zu viel Hilfe von mir verlangen. Das lässt mich zur Ruhe kommen, auch wenn sich zwischendurch immer wieder ein schlechtes Gewissen einschleicht, nicht genug geholfen zu haben. Ich muss es aushalten lernen, um mich zu schützen. Zumindest gibt es immer weniger Situationen, die mich überfordern und in die Verstummung jagen.

Für den Lebenspartner ist diese Verstummung eine sehr schlimme Situation, weil er das Gefühl hat, Schuld an dieser Situation zu tragen. Doch es ist nicht der Fall. Es hat nur etwas mit „meiner“ Grenze der Überforderung zu tun. Leider treten diese Verstummungsanfälle sehr plötzlich und ungeplant bei mir auf und können einen schön geplanten Tag oder Abend ganz schnell zerstören. Es tritt auch bei Urlaubsreisen auf, was bedeutet, dass alle einige Tage Erholung einbüßen.

Ich hielt diese Reaktion von mir bislang für sehr merkwürdig, belastend und angsteinflößend. Nun weiß ich, dass sie dem autistischen Spektrum zugeordnet werden kann, was mich sehr entlastet.
Ich weiß nicht, wie es anderen Betroffenen geht, die am Asperger-Syndrom leiden, aber ich habe oft Angst, als „verrückt“ eingesperrt zu werden. Deswegen vermeide ich es weitgehend, über solche Probleme zu reden.

(Meine Blogs gibt es auch als eBook bei Amazon unter „Denkmomente“ und bald als Printausgabe)

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10 Gedanken zu „Verstummung – selektiver Mutismus

  1. denkmomente Autor

    Vielen Dank! Hat mich viel Überwindung gekostet. Aber vielleicht erreiche ich auf diesem Wege Menschen, dene ich damit Erleichterung verschaffen kann. Die Angst begründet sich immer im Unbekannten. Sobald man seinen Feind kennt, ist er kein Feind mehr. 😀 Ich wünsche dir einen schönen dritte Advent!

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  2. Ismael Kluever

    Selektiver Mutismus wird auch von Ärzten fehlgedeutet. Bitteres Beispiel: Einer mir bekannten Autistin wurde vom Arzt des medizinischen Dienstes kurzerhand dauernde Berufsunfähigkeit bescheinigt, weil sie gerade in dieser Untersuchungssituation nichts sagen konnte.

    Für mich als neurotypischer Mensch stellt sich die Frage, wie ich mich verhalten soll, wenn mein Gegenüber auf meine Worte nicht reagiert, ich den Grund dafür aber nicht kenne. Wenn ich also nicht weiß, ob derjenige nicht sprechen will, nicht sprechen kann oder gerade in dieser Situation nichts herausbringt. Wie erkenne ich, ob ich ihn ganz in Ruhe lassen (oder vielleicht an einen ruhigen Ort bringen) muss, ob ich ihm andere Kommunikationswege anbieten kann (schreiben, etwas ins Smartphone tippen), ob eine beruhigender Zuspruch hilfreich ist („Du musst jetzt nichts sagen, das ist so okay für mich!“) oder einfach nur schweigend da-sein? Oder ob doch allein lassen besser ist?
    Familienangehörige können sich vielleicht, wie du geschildert hast, darauf einstellen. Aber wenn man mit der betroffenen Person nicht so vertraut ist, wird es schwierig.

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    1. Christine Winter

      Lieber Ismael,
      ich finde großartig, dass du dir Gedanken dazu machst, wie du dich verhalten kannst, wenn du mit Sprachlosigkeit konfrontiert bist.

      Als ehemalige Mutistin hätte ich mir früher gewünscht, dass mehr Menschen sagen: „Du brauchst nichts zu sagen, es ist okay.“ Und mir dann Raum geben, um mich auf meine Weise zurückzuziehen, indem ich die Situation verlassen kann oder in meine innere Welt „verschwinde“.
      Durch jegliche Aufmerksamkeit hätte ich mich unter Druck gesetzt gefühlt – selbst wenn es nur schweigendes Wohlwollen gewesen wäre.

      Nach meiner Erfahrung weiß jeder Mensch, der gerade unter Stress/Druck steht, ein freundliches „Du bist okay, so wie du bist“ zu schätzen.

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  3. denkmomente Autor

    Das ist ein sehr guter Kommentar, Ismael! Und es ist in der Tat ein sehr großes Problem für beide Parteien. Eine solche Situation, wie du sie beschreibst, macht deutlich, dass Autisten in bestimmten Bereichen Hilfe, Begleitung und Unterstützung dringend benötigen. Wenn deine Bekannte eine Begleitung dabei gehabt hätte, die mit dieser Situation vertraut gewesen wäre, wäre die dauernde Berufsunfähigkeit nicht zustande gekommen. Autisten benötigen in vielen Bereichen überhaupt keine Hilfe, aber in manchen dafür umsomehr. Du befindest dich im Vorteil, schon etwas zu ahnen, wenn dir dies passiert. Du kannst zum Beispiel nachfragen, ob der/diejenige derzeit nicht antworten kann. Dann wird dein Gegenüber sicherlich nicken können und du weißt Bescheid und überlässt ihm/ihr den entsprechenden Rückzug, um diese Verstummung zu überstehen. Du könntest anbieten, später weiter zu reden. Im Grunde ist es das gleiche Gefühl, wenn die soziale Interaktion gestört ist, d.h. wenn zu viele fremde Menschen mit zu vielen fremden Fragen oder Themen auf einen autistischen Menschen einströmen. Das kann zu einem Overload führen und den Autist regelrecht verstummen lassen. Es kann aber auch passieren, dass er völlig aufgebracht zu viel wirres Zeug redet, um die Angst oder Unsicherheit zu überwinden. Diese Peinlichkeit bereitet ihm dann oft ein schlechtes Gewissen daheim, und er kann dort anschließend in eine Verstummung fallen. (So ergeht es mir häufig) Es erscheint mir wie ein Schutzmechanismus des Gehirns. Wenn es zu voll ist, schließt es die Pforten und gibt kaum oder keinerlei kommunikative Reaktionen frei. Wenn man dieser Person dann Ruhe und Rückzug gewährt, hebt sich die Verstummung wieder auf und sie ist in der Lage, die Situation zu erklären.
    Die Verstummung ist für mich der klare Beweis für meine Probleme im Bereich der sozialen Interaktion. Wenn andere herumschreien oder wütende Worte von sich geben (als Ventil), weil sie sich überfordert fühlen und dadurch aggressiv werden, richtet sich diese Aggression bei mir nach innen gegen mich selbst. Es fühlt sich an, als wenn mich jemand innerlich zusammenpresst und mir die Sprache und den Atem abschnürt. Man kann es vielleicht mit dem Gefühl vergleichen, wenn man einen sehr geliebten Menschen verliert und es einen innerlich vor Schmerz regelrecht zusammendrückt. So fühlt sich bei mir eine Autoaggression (gegen mich gerichtete Aggression) an. Es ist die Wut über mich, nicht angemessen reagieren zu können. Es ist schön zu wissen, wenn man Menschen um sich hat, die einen in solchen Situationen auffangen oder schützen können. Ich denke, jeder autistische Mensch sehnt sich nach einer solchen Person.

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  4. Bine

    Danke für deine offenen Worte- wie könnte es denn auch für einen Menschen leicht sein, diesen Zustand zu beschreiben? Das totale Gefühlschaos. Ich finde deine körperlichen Reaktionen enorm. Dass man sich nach so einer Attacke völlig erschöpft fühlt, glaube ich gern. Um ehrlich zu sein, mich schockiert deine Schilderung, das ist wirklich arg. Und sicher auch für den Partner hart, eben weil es dich auch physisch so umhaut.

    Ich selbst begleite einen autistischen Jungen in der Schule, auch er ist vom selektiven Mutismus „betroffen“. Erstaunlich, dass es auch hier wieder soooo viele Facetten zu geben scheint!
    Wir kommunizieren bisher nicht mündlich miteinander- seit über einem Jahr kennen wir uns nun. Sein Reden beschränkt sich auf seinen „Schutzraum“, wie ich´s nenne: engste Familie und räumlich deutlich getrennt von der „Außenwelt“. Für mich selbst war das nie ein Problem, ich nehme das selbst kaum wahr, weil ich es an ihm einfach nicht anders kenne. Es ist nicht immer ganz leicht, aber bisher haben wir noch immer irgendeinen Weg gefunden! Erschreckend ist nur, wie die Menschen häufig darauf reagieren. Selbst Ärzte. Die Sprache wird lauter, so als sei er schwerhörig oder geistig eingeschränkt. Oder die Kommunikation wendet sich sofort an eine dritte Person. „Nein, er kann SIe hören!!!“ Oder: „Fragt ihn doch selbst, er ist hier!“ Natürlich bleibt da keine Böswilligkeit zu unterstellen, aber es ist erstaunlich, wie wenig anpassungsfähig Menschen spontan sind. Dabei wird es doch ständig gefordert! Es ist ein bisschen wie: `Oh, Autist! Und als wenn das nun nicht ausgereicht hätte auch noch Mutist!` Solche Reaktionen gehen auch an keinem Kind vorbei, das ist sehr traurig. Und nicht hilfreich dabei, die Stimme wieder zu finden…
    Ich bin auf jeden Fall glücklich mit dem, was ich tu und dass es ER ist, mit dem ich den Tag verbringe 🙂

    Ich wünsche dir, dass diese schlimmen Momente für dich weniger werden, in Intensität verlieren und vielleicht sogar ganz verschwinden und wünsche dir alles Liebe auf deinem Weg!

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  5. denkmomente Autor

    Vielen Dank für diese Rückmeldung! Ich bin überzeugt, dass es viele verschiedene Reaktionen von Verstummung gibt. Ich habe in der Realschule diese Verstummung ebenfalls erlebt, als mein Lehrer mich nur allzugerne der Klasse im Physikunterrricht (überhaupt nicht mein Ding) vorführte und mir Fragen stellte. Ich war nicht in der Lage zu antworten, und er wurde immer lauter und fordernder. „Bist zu dumm zum antworten“, bekam ich zu hören. Ich konnte den ganzen Tag über nichts mehr in der Schule sagen, bekam nichts mit und fiel anschließend zu Hause voller Aggressionen gegen mich, wieder einmal versagt zu haben, für Stunden ins Bett. Ich musste diese Schule später verlassen, weil ich dort nicht mehr lernen konnte.
    Ich wünschte, Familien, Freunde, Lehrer, Ärzte und Arbeitgeber wären besser aufgeklärt. Dazu gehört aber auch, dass sich der erwachsene Asperger mit seinem Problem mitteilt. Leider hat er oft Probleme mit dem „wie“. Dafür wär ein Betreuer ideal.

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  6. Megaterhorst

    Ich habe oft das Problem das ich gerade in Situationen wo ich jemanden mit Namen ansprechen muss verstumme. Mir fällt es schwer Menschen mit Namen zu addressieren. Ich hatte damals in der Schule auch oft das Problem das ich wenn mir der Lehrer sagte ich solle doch jemand anderen dran nehmen. Dann sitze ich da dann erstmal reglos. Das umschauen um zu sehen wer sich meldet ist ja schon schwierig, dann aber noch jemanden mit Namen ansprechen… Da schalte ich dann komplett ab. Ich erkläre dann vielleicht manchmal noch das ich keine Namen sagen kann aber das führt in den meisten Fällen dann nur dazu das Leute mich auffordern ihren Namen zu sagen oder meinen sich erinnern zu können das ich das mal bei ihnen getan habe. Dies führt dann meist dazu das ich noch mehr Schwierigkeiten bei diesem Thema habe und auch oft mit Kopfschmerzen und einem Gefühl der Hitze verzweifel. Es wird am Wahrheitsgehalt meiner Aussage gezweifelt. Komischerweise fällt mir das Namen sagen bei Namen bei denen ich mir sicher bin das ich niemanden mit diesem Namen kenne oder bei fiktiven Personen überhaupt nicht schwer. Vielleicht hat es mit der Reaktion der Person auf das Ansprechen zu tun. Ich weiß es nicht. Mir wurde öfters mal angeboten etwas dagegen zu tun aber nichts hat da geholfen. Meistens spreche ich also Leute nur mit Du oder Sie an.

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  7. schafieukalyptus

    Nabend. Ein guter Beitrag. Ich selber kenne das Problem auch. Es ist für mich quasi auch noch mal eine Bestätigung meines erlebten und der Asperger Kriterien. Gut zu wissen, dass selbst mein damaliger Psychologe es nicht gemerkt hat :/ obwohl man solch Situationen schilderte. Aber wie hier schon manche schreiben: Selbst Ärzte etc. Wissen es oftmals nicht, ziemlich schade…
    Lg

    Lg

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