Wie viel Nähe kann ich aushalten?

Ich kann Nähe nur sehr schwer aushalten. Dabei rede ich nicht unbedingt von körperlicher Nähe, nein, es geht mehr um die Nähe zu meinen tiefen Gefühlen und Gedanken. Sicherlich lässt sich das eine vom anderen nicht immer trennen, aber bei mir gibt es durchaus zwei verschiedene Wahrnehmungen. Zunächst zur körperlichen:

Schon als Kind mochte ich kein Händegeben und keine Umarmungen. Der bloße Hautkontakt löste in mir eine Art Übelkeit oder großes Unwohlsein aus. Aber als Kind ließ ich diese Gesellschaftsregeln eben zu, weil ich es nicht besser wusste. Als Jugendliche verstärkte sich die Wahrnehmung noch einmal und ich konnte Hautberührungen kaum noch aushalten. Ich suchte, wo immer ich war, einen „gediegenen“ Abstand zu meinen Mitmenschen, wenn ich mit ihnen sprach oder in ihrer Nähe saß. Bloß keine Berührungen! Schon alleine der unabsichtliche Kontakt mit den Knien unter dem Tisch, wenn es mal wieder zu eng war, löste in mir ein starkes Zucken aus, selbst durch die Berührung der Kleidung. Ich konnte das Zucken nie ablegen. Es ist mir peinlich, weil es dem anderen eine Art Abneigung signalisiert, also vermeide ich Nähe wo immer ich kann. Wenn mir eine Tischrunde zu eng wird, denke ich mir Ausreden aus, weshalb ich nicht dazwischen sitzen kann. Ich helfe dann in der Küche aus oder schiebe belanglose Kleinigkeiten dazwischen.
In den USA und in Kanada existiert eine Gesellschaftsregel: Bitte nähern Sie sich wenn möglich einer fremden Person nicht näher als einen Meter. Das gefällt mir! Es hat mir Respekt zu tun, erklärte man mir, als ich einmal in einer Immigrationsschule nachfragte.

Als ich Mutter wurde, halfen mir die Kinder, mehr körperliche Nähe zuzulassen. Zu ihnen konnte ich problemlos Hautkontakt aushalten. Das wiederum verhalf mir dazu, auch Umarmungen mehr zuzulassen, auch wenn es mir bis heute unangenehm ist. Doch es ist bei weitem nicht mehr so schlimm. Ich habe über die letzten Jahrzehnte gelernt, dass diese Form der Begegnung zu gesellschaftlichen Abläufen dazugehört. Ebenso das Händegeben. Ich vollziehe diese Berührungen aber völlig emotionslos.

Die zweite, und damit viel wichtigere Nähe, ist die Nähe zu meinen Gefühlen und Gedanken. Schon immer empfand ich eine Art Raum um mich herum, in den niemand eintreten durfte. In diesem Raum lebe, atme und fühle ich. Es ist mein alleiniges Reich. Es geht niemanden etwas an. Ab und zu öffne ich ein Fenster zu meinem Raum, um mich in die Welt hinauszulehnen oder andere kurz hineinsehen zu lassen. Auch wenn ich inmitten vieler Menschen lebe, so lebe ich völlig isoliert mit meinen Gefühlen. Ich möchte und kann sie zum Teil auch nicht mitteilen, weil sie mir als eine Art Gut erscheinen, das keinen etwas angeht. Ich bin sehr gerne alleine, auch wenn man es mir nicht anmerkt, aber sobald ich niemanden mehr um mich habe, hole ich immer tief Luft, als würde ich jetzt erst richtig atmen und meine Lungen mit Sauerstoff füllen können.

Wie viel Nähe kann ich aushalten?

Je älter ich werde, desto weniger Nähe ist mir angenehm. Ich will auch nichts mehr aushalten, was mir unangenehm ist. Ich kann auf Entfernung mehr empfinden, als bei direkter Nähe. Es ist, als bekomme ich durch Entfernung erst Raum für meine Gefühle. Doch sobald sich mir jemand nähert, verstummen sie und ich bin nur noch auf den anderen fixiert, was mich enorm viel Energie kostet.
Wenn ich mich heute zurück entsinne, wie mein Leben emotional verlaufen ist, kann ich mich an so gut wie gar nichts erinnern. Kennt Ihr das? Ihr schaut in eine alte Fotokiste und könnt euch erst dann an all die gelebten Situationen erinnern. So ist es mit meinen Gefühlen. Erst durch Fotos kann ich mich erinnern und fühlen. Deswegen fotografiere ich auch so viel. Es sind oft die Gefühle, die ich festhalte, weil ich sie in meinem Inneren kaum wahrnehme.

Die stärksten Gefühle verspüre ich beim Alleinsein und in der Stille der Natur. Die kann ich später auch abrufen. Es fühlt sich an, als könne ich mich nur durch das Alleinsein bewusst spüren. Warum ist das so? Warum schalten sich alle tiefen Emotionen ab, wenn jemand in meine Nähe kommt?

Mein eigener Wohnbereich ist inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil in meinem Leben geworden. Er gibt mir Ruhe und inneren Frieden. Dorthin ziehe ich mich zurück, wenn mir wieder alles zu viel wird. Dort darf mich niemand stören. Ich bestimme, wann ich wieder Nähe zulasse und nicht die anderen. Nur so kann ich relativ störungsfrei leben.

(Ab jetzt kann man meine Blogs auch zusammengefasst als eBook oder  Printausgabe lesen)
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4 Gedanken zu „Wie viel Nähe kann ich aushalten?

  1. Helen

    Es ist vollkommen normal, als Kind Umarmungen als unangenhm zu empfinden. Das kommt evolutionstechnisch wohlt daher, dass man daher Krankheiten übertragen kann oder sich auch eingeengt fühlt. Wie bekommt man Kinder, wenn man keine Nähe zulassen kann, das ist mir zu paradox. Geht es nun doch um die seelische Nähe oder ehr um das körperliche. Ich halte beides noch für normal.
    Wenn das ausreicht, ist Deutschland ein Land von Aspergern. Die meisten leben zurückgezogen, wollen die Menschen nicht übertrieben teilhaben, haben schon keine Lust mehr wegzugehen etc. Stille und Natur geniessen auch viele, das nennt man naturverbunden. Ich weiß nicht, ob mit der Diagnose nicht oft übertrieben wird. Warum muss man sich besonders fühlen, wenn so viele so sind. Im Grunde zieht man die Aufmerksamkeit ja dadurch auf sich: kümmer dich um mich und geh mit mir besonders um, rücksichtsvoll, denn ich habe ja etwas.
    Damit meine ich nicht die schweren Fälle, die wirklich behindert sind.
    Manchmal reicht ansonsten ein nein, will ich nicht, sonst wird man sich immer so fühlen wie im falschen Film. 🙂 Und so ein Gefühl haben sehr sehr viele Menschen.

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    1. Denkmomente Autor

      Leider ist hier einiges falsch interpretiert worden. Diese Form von Beiträgen sind typisch, wenn man das „Gesamtpaket“ des Asperger Syndroms nicht kennt. Schade. Es werden einzelne Anzeichen zerpflückt und die Betroffennen damit sehr verletzt.

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      1. T.B.

        Ich möchte bestätigen, was die Autorin antwortet.

        ‚Helen‘ kennt sich allem Anschein nach nicht aus mit dem Asperger Syndrom.

        Meine Erfahrung:
        nur Betroffene können einen verstehen. Und ansatzweise spezialisierte Therapeuten und – innen und Diagnostiker/innen. Und vielleicht ADHSler ansatzweise.

        Ich finde mich in jedem Satz des Geschriebenen.
        Und es ist sehr, sehr gut beschrieben. Ich selbst wüsste nicht, wie ich es beschreiben soll. Daher danke, es tut gut das zu lesen, ich habe nämlich arge Schwierigkeiten mich verständlich zu machen, es ist einfach so kompliziert. Und oft paradox / widersprüchlich, was in einem ‚abgeht’…
        Das versteht doch kein NT…..

        Ich lese seit einiger Zeit hin und wieder in diesem Blog. Er gefällt mir außerordentlich gut.
        Danke und weiter so!

        T.B. aus Norddeutschland

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