Gut, dass Sie es nicht wussten … sagte der Psychologe

Wer hält das für möglich! Da soll ich froh sein, dass ich über all die Jahre nichts vom Asperger Syndrom wusste und doch „so gut“ durchgekommen bin. Ich schrieb bereits einmal über dieses leidige Thema, aber es ärgert mich immer wieder, so etwas zu hören. Vor allen Dingen in Zusammenhang mit betroffenen Eltern, die jahrelang unter großer Ungewissheit litten und die mit ihren vom Asperger Syndrom betroffenen Kindern Hilfe suchen und den pfleglichen Tipp bekommen: „Sie sind doch auch gut durchgekommen. Dann bekommen Sie das Kind auch gut durch.“
Entschuldigung, aber mir wird bei solchen Empfehlungen kotzübel!!
Mein Tipp: Diesen Ratgeber sofort at acta legen!
Warum?

Sind wir wirklich gut durchgekommen? Nein!
Ging es uns all die Jahre wirklich gut? Nein!
Wollen wir, dass alles so bleibt? Nein!
Wollen wir Klarheit? Ja!
Wollen wir Gewissheit? Ja!
Wollen wir, dass sich etwas ändert? Ja!
Wollen wir, dass es unseren Kindern gutgeht? Ja!
Nur deswegen suchen wir Hilfe auf. Ich suche doch keine Hilfe, wenn ich mit der Situation zufrieden bin. Also, Ärzte, die solche Aussagen machen, haben aus meiner Sicht ihren Beruf verfehlt.

Ich würde jeder Familie und überhaupt jedem Menschen empfehlen, sich die Hilfe zu suchen, die sich auch auf deren Seite stellt. Wir wollen einen doch keinen Krieg gegen unseren eigenen Arzt führen? Umgedreht erscheint es mir oft so. Ja, ich empfinde es als richtig gemein und unprofessionell, wenn mich der Arzt mit meinen Sorgen nicht ernst nimmt und meine Probleme schönredet.
Ich liebe es, in solchen Fällen die „Umkehrformel“ anzuwenden. Wie würde sich der Arzt fühlen, wenn er Hilfe bei einem Kollegen sucht und dieser ihm sagte: „Sie sind doch bis jetzt ganz gut durchgekommen. Dann schaffen Sie das auch weiter.“ Ich würde fragen: „Na, wie fühlt sich das an?“

Es macht mich so wütend, dass ich immer wieder von diesem Problem lese. Da wird von manchen Ärzten der Begriff „Kaschieren“ mit „Wohlfühlen“ verwechselt. Wir brauchen mehr Duden in den Arztpraxen, um die Begriffe neu zu klären.

Das größte Problem und gleichzeitig eine große Gefahr beim Asperger Syndrom oder dem Hochfunktionalen Autismus ist doch genau die Anpassung, die gänzlich gegen die Natur desjenigen arbeitet. Dann liegt es doch auf der Hand, dass derjenige früher oder später erkrankt, entweder körperlich oder mental. Wie hätten Sie es denn gerne, Herr Doktor! Na, vielleicht kommt auch ein kleiner Suizidversuch dazwischen, damit die Suppe auch köstlich schmeckt.
Schluss mit dem Sarkasmus, der mich bei diesem Thema immer wieder einholt.

Jeder Betroffene von Autismus, egal, welche Art von Autismus es ist, sollte so schnell wie möglich beraten und diagnostiziert werden. Nur das garantiert dem Betroffenen eine Entwicklung, die ihn sich gut fühlen lässt. Jeder Mensch mit Autismus kann nämlich durchaus glücklich und im guter Balance in unserer Gesellschaft leben. Er muss nur das richtige Umfeld gestaltet bekommen. Und genau dabei benötigt er Hilfe. Das Umfeld sollte so früh wie möglich angepasst werden und nicht der Betroffene an das Umfeld. Und ich spreche aus eigener Erfahrung. Ich habe dreißig Jahre meines Lebens darauf gewartet, „mein Leben“ leben zu dürfen, weil es mir als Kind weggenommen wurde. Das wünsche ich keinem anderen Menschen auf dieser Welt.

Meine Bitte an Eltern von betroffenen Kindern: Ihr spürt, wenn etwas nicht stimmt, wenn eure Kinder plötzlich aus unerfindlichen Gründen Probleme bekommen, Prüfungsangst erleiden, soziale Interaktionsprobleme zeigen oder sich einfach nicht in ihrer Rolle oder Haut wohlfühlen. Dann stecken sie vielleicht in einer Haut, in die sie reingepresst wurden aber nicht gehören. Redet mit euren Kindern, auch wenn sie jugendlich oder gar schon erwachsen sind. Gebt ihnen die Chance oder Möglichkeit, herauszufinden was los ist. Ich rede dabei nicht von Bagatellen. Ich rede davon, wenn Ihr das Gefühl habt, dass sich ein ernstes Problem anbahnt.
Und dann könnte Ihr sagen: „Gut, dass wir es wussten…“
(Meine Blogs gibt es auch zusammengefasst alseBook oder  Printausgabezum Lesen)
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14 Gedanken zu „Gut, dass Sie es nicht wussten … sagte der Psychologe

  1. aspiemom

    Hat dies auf Aspie Mom rebloggt und kommentierte:
    Danke!! Ich bin der gleichen Meinung: egal um was es geht, eine schnellstmögliche Diagnostik ist immer, restlos immer, vorzuziehen und diese Bemerkungen ‚Sie haben es doch geschafft, also wird Ihr Kind es auch schaffen!’… äh, nein, nur weil ich es geschafft habe, mein Kind hat eine ganz andere Persönlichkeit und ist kein Klon von mir.

    Ich denke aber auch, dass jede Medaille 2 Seiten hat. Wenn ich früher von meinem Autismus gewusst hätte, hätte ich höchst wahrscheinlich früher dekompensiert. Dieses ’nicht wissen‘ ist durchaus auch ein ‚Motor‘, der einen antreibt. Antreibt in dem Wunsch doch irgendwie sein Leben zu leben, dazuzugehören, zu arbeiten, Geld verdienen, in die Rentenkasse einzuzahlen…
    Wenn ich früher dekompensiert wäre, hätte ich jetzt nicht die Rente, die ich habe.

    Dennoch, was eine späte Diagnose mit einem macht, bzw. was dieses Unwissen mit einem macht, diese dauerhafte Verdrehung des eigenen Seins, diese zwanghafte Anpassung, diese andauernden Missverständnisse, die einen gefühlt an den Rand des Wahnsinns treiben, das Mobbing was viele von uns erleben… all das kann vermieden werden, wenn man früh diagnostiziert wird, was der seelischen Gesundheit sehr viel Leid erspart.

    Auch wenn ich von meinem verdrehten Leben jetzt profitiere, via Geld auf dem Konto, würde ich es immer vorziehen doch früher Bescheid gewusst zu haben!

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    1. Denkmomente Autor

      Das stimmt, wenn da nicht all die Krankheiten wären, die ich nun mitschleppe… Die würde ich gerne gegen das Geld eintauschen. Ich denke, wenn ich alles früher gewusst hätte, hätte ich mich beruflich ganz anders einsortiert. Bei mir ist der Fall eingetreten, dass ich einen Beruf ausübte, dem ich nicht gewachsen war und daher nur eine geringe Rente bekomme. Dafür übe ich jetzt den passenden Beruf aus und kann die Rente damit etwas aufpeppen. Ich finde deinen Kommentar dennoch sehr gut! Vielen Dank und viele Grüße!

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      1. aspiemom

        Wir sind uns sehr ähnlich! Ich sehe das ganz genau so. Ich hoffe, Du hast mich nicht falsch verstanden, denn ich bin absolut für eine frühzeitige Diagnostik. Und mir würde es heute ganz sicher besser gehen (denn auch ich habe einiges an Erkrankungen, die auf die Erfahrungen zurückzuführen sind, auch ich MUSSTE einen Job erleben, der absolut nichts für mich ist), wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß!
        Das ist die Krux, mit der wir spät diagnostizierten Autistinnen leben müssen, leider. (Und ich finde, Deinen ’neuen‘ Job füllst Du hervorragend aus!!)

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  2. Ranunculus

    Es ist schon merkwürdig, bei jeder physiologischen Erkrankung wird vor einer Therapie (zumindest in den meisten Fällen) eine fundierte Diagnostik betrieben, bei psychologischen Problem (oder die genannten Integrationsschwierigkeiten, meist unspezifischen Ängsten) reagieren sogenannte Fachleute mit Standardantworten (Standardtherapien). Ich habe über Jahrzehnte nie nachhaltig problemlösende Therapieversuche hinter mich gebracht, bis dann die Diagnose Autismus feststand. Mit (vermutlich einfacheren und vermutlich weniger scherzhaften) den richtigen Interventionsmethoden (geeignete Umgebung, nicht Umkrempelnwollen des eigenen Ichs, Standardantworten, ich sei zu verkopft und analytisch und würde mich der Therapie nur sperren), wäre mir vermutlich schneller und nachhaltig geholfen worden. Zusammengefasst, nur bei der richtigen Diagnose kann die richtige Therapie erfolgen, das ist trivial, wird auch (mein erster Satz) meist so angesehen und angewendet, aber eben nicht in der Psychologie / Psychiatrie (wobei das auch wieder die Bewertung einer Erkrankung beinhaltet). Aber besser dieses falsche / ungenaue Bild als unspezifische (frustrierende) Hilfsangebote.

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  3. Sylvia Zeeck

    Hallo, ich freue mich hier ein Portal gefunden zu haben, wo „Betroffene“ offen über Ihre Gefühle und Erfahrungen sprechen. Ich bin gerührt das es hier möglich ist darüber zu sprechen. Ich habe daher eine vielleicht wichtigste Frage in meinem Leben, betreffend meines Sohnes. Er ist 21 Jahre und hat einen diagnostizierten “ leichten“? Asperger. Für uns Eltern und auch für seine Geschwister war unser Ältester immer ein großes Rätsel. Ich muss hier glaube ich Niemanden versuchen zu erklären was es für eine Familie bedeuten kann mit jemanden zu leben, der so viel anders empfindet als wir. Seine scheinbar depressive und verachtende, aggressive Art macht es uns sehr schwer ihn zu nehmen als wäre die Welt in Ordnung . Wir schaffen es leider nicht. Nachdem nun unser Sohn schon seit vielen Monaten nicht mehr mit uns spricht, weiß ich nicht wie ich ihn dazu bewegen kann sich in therapeutische Hilfe zu begeben, denn für den Rest der Familie ist das Zusammenleben mit Ihm so nicht mehr zu ertragen. Er sitzt 18 Stunden des Tages vor seinem Computer und verlässt das Haus nur sehr selten. Es gibt in seiner Welt nur Computer, Zauberwürfel , essen, trinken und schlafen. In den Ferien das war schon in der Schulzeit so, hat er sein Zimmer nie verlassen, Urlaub war so für ihn nicht möglich. Nun studiert er ab März , im zweiten Anlauf, Medieninformatik, das ist ein großer Lichtblick. Also Ziele scheint es in seinem Leben schon zugeben jedoch habe ich die Befürchtung das er wieder den Studiengang abbricht, mit uns auch nicht darüber spricht und dann???? …… Ich habe schon versucht auf verschiedenste Weise Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber das verrückte ist, langsam fühle ich mich schon selber wie ein Autist. Vielleicht kann mir irgendwer hier in diesem Portal einmal erklären was die größten Fehler eines Nichtautisten sind, im Umgang mit Asperger Autisten? In der Hoffnung einen anderen Weg zu ihm zu finden um endlich wieder ein Vertrauen aufzubauen?

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    1. Denkmomente Autor

      Hallo liebe Sylvia! Nein, hier auf dieser Seite brauchst du niemanden mehr etwas erklären. Ich verstehe dich schon nach den ersten Sätzen und höre deine Not. Sie ist groß, sehr groß!
      Ich würde ja gerne mal andere dazu befragen, deswegen muss ich zunächst dich fragen: Ich betreibe in Facebook die Seite „Denkmomente“ mit knapp 600 Mitgliedern. Ich könnte deine Anfrage mal annonym posten und schauen, wer antwortet. Vielleicht ist der eine oder andere Tipp für dich dabei. Wärst du damit einverstanden?
      Meine Antwort zu deiner Frage: Ich kenne eine ähnliche Situation von einem meiner Söhne und musste erst klären, ob eine Computersucht oder eine eventuelle autistische Sache dahintersteckt. Mir hat es geholfen, als ich in einem ruhigen Gespräch fragte: Was wünschst du dir von mir/uns? Dann ließ ich ihn erzählen und erfuhr eine Menge über die Nöte unseres Kindes. Vielleicht hilft dir das… Liebe Grüße!

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      1. Sylvia Zeeck

        Vielen lieben Dank für die schnelle Antwort. Der Tipp von Ihnen ist sehr gut, habe ihn auch schon angewandt, wie auch schon so viele andere Versuche mit meinem Sohn ins Gespräch zu kommen. Leider habe ich kaum Erfolg. Wir sind schon seit dem 7. Lebensjahr mit unserem Sohn in Therapie aufgrund von Ads. Nach 2 Jahren herumexperimentieren mit pflanzlichen Mittelchen und Therapien erhielt er Ritalin was unseren Sohn plötzlich zu einem völlig anderen Menschen machte. Er war wach, Gesprächig, nahm am Familienleben teil, war gut in der Schule. Alles ganz normal bis auf die fehlende Aufmerksam für Geburtstage eines anderen Menschen. Also Gratulieren, schenken oder auch planen von irgendwelchen Abläufen sind ihm nach wie vor unmöglich. Und das ausnahmslos. Asperger wurde erst im laufe der 10. Klasse diagnostiziert. Auch erst nach meinen eindringlichen Bitten an die Ärztin. Jetzt nimmt er seit einem Jahr kein Ritalin mehr, hat sich wieder komplett eingekapselt und wurde wieder so unnahbar wie früher. Das was uns so unglücklich macht, ist die spürbare Leere die zwischen uns und unserem Sohn liegt. Er reagiert mit einer unglaublicher Kühle, teilweise aggressiven Zurückweisen und “ beleidigten“ Blicken. Aber das habe ich ja schon zuvor berichtet. Vielleicht ist es eine gute Idee die Frage in ihre Facebook – Gruppe zu stellen. Ich selber bin auch bei Facebook und kann somit auch darauf zugreifen. Vielleicht gelingt es uns leichter wenn wir erfahren was Nichtautisten auf jeden Fall im Leben mit Asperger Autisten vermeiden sollten. Ich glaube das bei uns irgendwo der Fehler liegen muss. Vielen Dank für Ihre Zeit die Sie uns geschenkt haben, Mit freundlichen Grüßen Sylvia Zeeck

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      2. Denkmomente Autor

        Liebe Sylvia, wir dürfen nie vergeseen , dass Menschen mit Autismus (und ADH als Begleitform) oft in ihrer eigenen Welt leben. Das ist bei mir nicht anders, aber bin durch eine Form der Hochfunktionalität in der Lage, soziale Kontakte aufzunehmen und sie etwas zu pflegen. Das kann nicht jeder. Viele möchten völlig zurückgezogen leben. Du kommst an deinen Sohn wahrscheinlich nur dann heran, wenn er einen Zeitpunkt bestimmt, an dem er mit dir reden möchte. Dann hat er sich darauf eingestellt und du kannst nach seinen Wünschen und Vorstellungen fragen. Eines müssen wir uns immer wieder klarmachen: ein Autist kann sich nur schwer an die Gesellschaft und das Umfeld angepasst werden. Es muss ungedreht werden. Sein Umfeld muss an ihn angepasst werden. Seine Computerspiele entspannen ihn bestimmt sehr. Deswegen flüchtet er hinein. Alles andere stresst ihn. Ich würde darin auch seine berufliche Zukunft sehen. Einer meiner Söhne hat damit mit 16 Jahren angefangen und ist heute ein Teamleiter von Programmieren in einer kleinen aber sehr erfolgreichen Agentur. Für ihn kam nur der Beruf des Programmierers in Frage. Er verbindet Beruf und Spezialinteresse und ist mittlerweile ein Spezialist auf seinem Gebiet. Erzähl das mal deinem Sohn. Vielleicht reagiert er darauf
        Ich werde deine Frage mal anonym auf meine FB-Seite stellen. Wenn du darauf Zugriff hast, dann kanst du selbst lesen, was andere dazu schreiben. Liebe Grüße!

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