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Vorurteile gegen Asperger-Autisten

(Ich bitte um Verständnis, wenn der folgende Beitrag nicht fachlich ausgereift ist. Ich schreibe dies, um einen oberflächlichen und gut verständlichen Überblick zu vermitteln. Korrekturen und Meinungen sind herzlich willkommen!)

Zur groben Klärung vorab: Es gibt frühkindlichen Autismus, verschiedene autistische Syndrome (Kanner, Savant…) und das Asperger Syndrom in verschiedenen hochfunktionalen Ausprägungen. Alles fällt unter den Begriff „Autismus“, wogegen der Begriff „Autismus Spektrum Störung“ (ASS) der zutreffendere Begriff ist, mit dem die Differenzierungen festgelegt werden.
Es gibt Fälle, die eine sehr starke Behinderung (meist bei frühkindlichem Autismus) aufweisen, bei der viel Hilfe nötig ist. Es gibt aber auch Fälle, die eine hochfunktionale Variante (Asperger Syndrom) zeigen, was bedeutet, dass diese Menschen zu ihrem Autismus die Fähigkeit besitzen, sich sozial in die Gesellschaft zu integrieren. Man muss all diese Fälle stark differenzieren.
Vorurteile beginnen dann, wenn diese Differenzierung wegfällt!

Ich wurde gefragt: Verletzt es dich, wenn du dir immer wieder Vorurteile anhören muss?
Ja klar! Wen verletzt es nicht? Vorurteile greifen die Ehre und den Stolz eines jeden Menschen an. Ich werde falsch definiert und wahrgenommen.
Als hochfunktionale Asperger-Autistin stecke ich in der Schublade des Oberbegriffs „Autist“.
Ahha!, sagen dann viele, die sich nie mit Autismus auseinandergesetzt haben. Allgemein ist „der Autist“ als jemand bekannt … und jetzt kommt es(!):
– er kann nicht richtig sprechen
– er kann keinen Blickkontakt halten
– er ist emotionslos, hat keine Gefühle
– er ist unsozial
– er grenzt sich von der Gesellschaft bewusst ab
– er lebt in seiner eigenen Welt
– er ist unfreundlich und verletzt damit andere Menschen
– er kann sich der Gesellschaft nicht anpassen
– er redet – wenn er mal redet – ohne Punkt und Komma
– er hat peinliche Macken
– er isoliert sich
– er nimmt andere Menschen und ihre Bedürfnisse nicht wahr, usw…

Das hört sich nach dem „Rainman“-Syndrom an, was es gar nicht gibt!!
Der Film Rainman zeigt eine Zusammensetzung vieler verschiedener Autismus-Formen und präsentiert einen Härtefall, den nur die wenigsten haben und die auch nicht selbstständig in der Gesellschaft leben. Er gehört dem frühkindlichen Autismus an, der mit dem klassischen, hochfunktionalen Asperger-Autisten fast nichts gemeinsam hat. Es existieren nur gewisse leichte Grundstrukturen, wie z.B.:
– Probleme mit der sozialen Interaktion
– Asperger pflegen sehr intensiv ein Spezialinteresse
– Probleme mit der Umwelt im sensorischen, akustischen und optischen Bereich

Ich könnte die Auflistung erheblich erweitern, aber ich bin kein Fachmann und möchte nur einen oberflächlichen Überblick geben.

Bei einer Diskussion unter Asperger-Autisten wurde das Thema „Vorurteile“ aufgegriffen und besprochen. Die Diskussion war sehr interessant, denn jeder in der Runde versuchte erst einmal fairerweise herauszufinden, ob diese Vorurteile zutreffen, denn dann wären es keine Vorurteile mehr. Jeder übertrug die Vorurteile auf sein privates Leben und seine Persönlichkeit. Hier das Ergebnis:

1. Können wir nicht richtig sprechen?
Doch! Das können wir!

2. Können wir keinen Blickkontakt halten?
Doch! Das können wir!

3. Sind wir emotionslos, haben keine Gefühle?
Doch! Im Gegenteil, viele Asperger leiden unter zu vielen Emotionen, die sie nicht mehr sortiert bekommen und darunter immer wieder zusammenbrechen. Sie leiden auch oft unter dem Problem, ihre Emotionen nicht mitteilen zu können.

4. Sind wir unsozial?
Nein! Wir definierten „sozial“ als ein Verhalten, das die Absicht verfolgt, niemandem zu schaden oder zu verletzen und anderen zu helfen.
Unsere Antwort: Wir sind alle sozial, zum Teil sogar sehr, weil einige in sozialen Berufen arbeiten. Ein Teilnehmer grenzte die Definition etwas ein und bekannte sich als nicht immer sozial. Er hat fair und ehrlich geantwortet.

5. Grenzen wir uns bewusst von der Gesellschaft ab?
Nein!

6. Leben wir in unserer eigenen Welt?
Nein! Wir leben in der Gesellschaft so gut es uns möglich ist (je nach hochfunktionaler Ausprägung/sozialer Anpassungsfähigkeit), aber wir benötigen einen Rückzugsort in unsere eigene Welt (eigenes Zimmer oder eigene Wohnung), um zur Ruhe zu kommen und uns zu erholen und die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Unsere Welt bezieht sich meistens auf unser Spezialinteresse.

7. Sind wir unfreundlich und verletzten andere Menschen?
Nein! Wir empfinden uns als freundlich, teilweise sogar als sehr freundlich, weil wir bestrebt sind, in Harmonie und ohne Streit zusammen zu leben. Wir empfinden weiterhin die Mitteilung der Wahrheit als freundlich und fair und können kaum verschleiern oder „durch die Blume“ etwas mitteilen. Wir verfolgen keine Absichten, jemanden zu hintergehen oder zu verletzten und können auch nicht verstehen, warum sich Menschen verletzt fühlen, wenn man ihnen wertfrei etwas mitteilt.

8. Können wir uns der Gesellschaft nicht anpassen?
Doch, das können wir! Wir befinden uns in einem ewigen Bestreben, es so gut wir möglich zu schaffen. Die Sehnsucht und Fähigkeit ist verschieden groß ausgeprägt. Wir alle möchten gerne dazugehören und sind bereit, durch die Hochfunktionalität (Fähigkeit zur sozialen Anpassung) alles zu tun, was uns möglich ist, um nicht aufzufallen. Doch wenn die Anpassung uns mit unseren sozialen Fähigkeiten auf Dauer überfordert, brechen wir zusammen.

9. Reden wir ohne Punkt und Komma, wenn wir „mal“ reden?
Es gibt natürlich extrovertierte und introvertierte Asperger. Doch diesem Vorurteil können wir uns nicht ganz verwehren, denn wenn wir auf unser Spezialinteresse angesprochen werden, laufen wir auch „Hochtouren“ und bemerken in der Tat oft nicht, wann wir unser Gegenüber überfordern oder langweilen.

10. Haben wir peinliche Macken?
Was ist peinlich? Ist es peinlich, wenn jemand (NT oder Autist) an den Fingernägeln kaut oder sich die Hände reibt? Wenn jemand sich verletzt fühlt, sich umdreht und eine Diskussion verlässt? Oder sich gerne auf einer Schaukel entspannt, weil dieses Gefühl einfach wohltuend ist? Hochfunktionale Asperger haben die gleichen Macken wie NTs.

11. Isolieren wir uns?
Nein! Das tun wir nur dann, wenn wir von unserer Umwelt überfordert werden und keine Möglichkeit mehr sehen, es auszuhalten. Isolation kann auch „Alleinsein“ und „Rückzug“ bedeuten, die notwendig sind, um Energie aufzutanken. Alleinsein (nicht verwechseln mit Einsamkeit) wirkt auf viele Asperger entspannend, wogegen Einsamkeit ein sehr trauriges und deprimierendes Gefühl bei ihm auslöst.

12. Nehmen wir andere Menschen und ihre Bedürfnisse wahr?
Ja! Mehr als es manchmal nötig ist.

Was lösen nun all diese Vorurteile gegen Asperger-Autisten aus?
Nun, ich kann nur von mir schreiben:

Ich bin hochfunktional, habe den Beruf der Erzieherin gelernt, bin seit 31 Jahren verheiratet, habe zwei erwachsene Jungen und arbeite seit vier Jahren freiberuflich. Ich war immer beruflich eingebunden und darum bemüht, so gut und freundlich wie möglich in dieser Welt zu existieren. Ich bin fröhlich, positiv und immer freundlich. Ich helfe meinen Mitmenschen wahnsinnig gerne, wobei ich immer wieder auf Menschen stoße, die mich ausnutzen. Ich habe einen so starken Anpassungsprozess hinter mir, dass ich kaum noch auffalle, aber deswegen sind meine autistischen Probleme nicht weg. Deswegen kam es vor zwei Jahren zu einem starken Zusammenbruch.

Die oben genannten Vorurteile sollten mich inzwischen nicht mehr treffen, aber sie machen mich sehr sehr traurig, wenn sie in der Allgemeinheit über Medien weiter verbreitet werden. Ich weiß, dass sich viele Asperger dadurch schwer verletzt fühlen und es sie in die Isolation treibt. Damit bestätigen sie zum Teil die Vorurteile in der Gesellschaft, obwohl sie es nicht wollen. Es findet also eine von der Gesellschaft verursachte Reaktion statt, die den Asperger zu einem Handeln zwingt, was er nicht will. Erst wenn die Aufklärung über das tatsächliche Leben (Wünsche, Sehnsüchte) und das Fühlen von hochfunktionalen Autisten soweit verbreitet ist, dass sie der Wahrheit entspricht, werden sich viele zurückgezogene Autisten wieder in die Gesellschaft (zurück)trauen und sich wohlfühlen. Dafür schreibe ich diese Blogs!

Meine Bitte an Medien und solche, die diese Vorurteile verbreiten: Autisten sind genauso vielfältig in ihren Fähigkeiten und Persönlichkeiten wie NTs. Wenn Ihr schreibt, berichtet oder über Autismus diskutiert, dann informiert Euch bitte vorher, über welche Form des Autismus‘ es geht. Dann verschwinden Vorurteile und wir alle fühlen uns viel wohler im Umgang miteinander!

(Ab jetzt kann man meine Blogs auch zusammengefasst als eBook und  Printausgabe lesen)
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