Autismus und Fehlhörigkeit (auditive Wahrnehmungsstörung (AWS) )

Die Frage: „Wie können Sie am besten ihre Bücher schreiben?“ habe ich stets mit „In totaler Ruhe und Einsamkeit“ beantwortet. Ich kann mich auf nichts konzentrieren, sobald ich etwas höre oder Bewegungen um mich sind. Das war schon in meiner Kindheit so und hat mir in der Schule schwer zu schaffen gemacht. Wenn ich mir einen Platz in der Klasse aussuchen durfte, wählte ich ihn immer weit vorne. Ich wollte keine anderen Schüler dazwischen haben, die mich ablenkten. Jedes Geräusch und jede Bewegung unterbrachen mich in meinen Gedanken. Es ist mir heute noch unmöglich, im Garten ein Buch zu lesen, wenn ich Nachbarn um mich habe, die zur gleichen Zeit draußen sind wie ich. Auch im Haus kann ich nur lesen und schreiben, wenn alles komplett ruhig ist. Sobald ich gestört werde, verliere ich den Anschluss, was mich nicht selten sehr wütend macht.
Ich konnte noch nie in Gegenwart eines anderen irgendwelche Unterlagen lesen, verstehen und unterschreiben. Musste sie stets in einem ruhigen Moment lesen.

Erst letzte Woche fand wieder eine der typischen Situationen statt, in denen ich mit meiner Fehlhörigkeit auffiel. Ich stand am Schalter meiner Bank und fragte etwas. Im gleichen Moment begann hinter mir ein Mann mit seiner Frau zu reden und ich konnte die Antwort der Dame hinter dem Bankschalter nicht verstehen. Also fragte ich erneut nach. Sie erklärte mir natürlich alles noch einmal, doch der Mann hinter mir redete weiter. Als ich erneut erklärte, dass ich die Dame nicht verstehen würde, fragte sie mich, ob ich schwerhörig wäre. Nein, im Gegenteil, ich höre zu viel, erklärte ich ihr. Ich höre nämlich alles um mich herum, auch wenn andere in meiner Nähe reden. Ich verstehe jedes Wort und das macht es mir oft schwer, alles zu selektieren. Die Dame hatte natürlich Verständnis und wartete, bis der Mann hinter mir leise war.

So ergeht es mir häufig, doch im Laufe des Lebens entwickelte ich Strategien, um nicht aufzufallen. Da es sich oft um immer gleiche Abläufe handelt, lernt man praktisch wie ein Blinder zu sehen, indem man sich erinnert, wie alles aussah. So prägte ich mir natürlich Reaktionen ein, die in den meisten Fällen funktionieren, obwohl ich nichts verstehe.

Meine Fehlhörigkeit kann auch der Grund sein, warum ich Musik besonders gerne laut höre. Damit schalte ich alle Geräusche um mich herum aus und kann mich entspannen. Das macht sich besonders beim Autobahnfahren bemerkbar. Ich glaube, es hält kaum einer aus, mit mir zu fahren, wenn ich durch Musik den Stress bekämpfe. Es muss eine besondere Musik sein, die sich ständig wiederholt. Was andere nervt, entspannt mich.

Was passiert, wenn ich zu Lesungen auf Buchmessen muss?
Das ist Stress pur für mich, aber auch gleichzeitig eine große Freude, weil ich mich dabei in meinem Spezialinteresse befinde. Das wirkt wie eine Art Ausgleich. Doch der Moment, in dem ich lese und gleichzeitig die Hintergrundgeräusche des Messebetriebes höre, wird es wirklich stressig für mich. Ich kann mich nur schwer auf den Text konzentrieren und Fragen der Zuhörer nur unter großer Mühe beantworten. Lesungen in kleinem Rahmen sind hingegen sehr schön für mich. Dort ist es ruhig und ich kann die Stimmen und Geräusche besser selektieren.

Das Telefonieren ist ein weiteres Problem. Dabei treffen gleich zwei Probleme aufeinander. Zum einen mein Problem mit der spontanen sozialen Interaktion und der Fehlhörigkeit. Ich kann oft nicht angemessen auf Gespräche am Telefon reagieren, sondern rufe eingeübte Reaktionen ab, so dass andere mein Problem nicht bemerken. Nach dem Gespräch fallen mir dann die Antworten ein, die ich gerne gegeben hätte, doch sie waren im Moment des Gesprächs nicht abrufbar. Außerdem mag ich keinen Smalltalk.
Das andere Problem ist, dass ich durch schlechte akustische Signalqualität nicht alles verstehe und mich oft nicht traue, den anderen zu unterbrechen. So kommen bei mir nur Gesprächsfetzen an, die ich so gut es geht beantworte.
Viele Menschen können mein „Telefon-Problem“ nicht verstehen, weil ich doch immer so freundlich wäre, doch ich erkläre ihnen, dass es mich sehr viel Konzentration kostet, ein solches Gespräch zu führen. Es schenkt mir kein Wohlgefühl, wirklich nicht. Das führt natürlich dazu, dass ich wieder einmal als seltsam wahrgenommen werde.

Das Kaschieren von Problemen verursacht ein Unverständnis in der Gesellschaft. Doch ich frage mich, ob das Erklären und Zeigen meiner Probleme nicht das gleiche bewirkt…
Passen Freundlichkeit und Probleme überhaupt zusammen? Was ist also der richtige Weg?

Hier die Symptome der auditiven Wahrnehmungsstörung:

  • Geräuschüberempfindlichkeit,
  • Verwechseln oder Vertauschen ähnlich klingender Laute,
  • mangelhaftes Lokalisieren einer Schallquelle,
  • mangelhaftes Sprachverständnis bei lautem Geräuschhintergrund,
  • Überhören von Ansprache,
  • schlechtes Sprachverständnis bei schnell gesprochenen Sätzen,
  • mangelhafte Fähigkeit von Lauterkennung und Lautverschmelzung
  • visuelle Informationen werden bevorzugt und leichter verarbeitet als akustische,
  • Kinder sind beim Verstehen von Sprache auf das Mundbild angewiesen,
  • Schwierigkeiten beim Telefonieren aufgrund der reduzierten akustischen Signalqualität,
  • sekundäre psychische Symptome, oft ruhige und zurückgezogene Kinder und Jugendliche.

    (Meine Blogs gibt es auch zusammengefasst als eBook oder  Printausgabe zum Lesen)
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13 Gedanken zu „Autismus und Fehlhörigkeit (auditive Wahrnehmungsstörung (AWS) )

  1. lizzzy07

    Das kenne ich. Als Chorsängerin habe ich schon festgestellt, dass der genaue Standort im Chor sehr viel ausmacht, ob ich gut mitsingen kann. Wenn ich einen Vortrag halte, stören Geräusche aus dem Publikum. Das Geknalle zu Silvester hat für mich die Predigt zerrissen. Wenn sich viele Leute in einem Raum unterhalten, ist eine eigene Unterhaltung ziemlich anstrengend. Zwei Stunden sind bei solchen Gelegenheiten mehr als genug. Dass ich nicht gleich reagiere bzw. es etwas dauern kann, bis ich nach einer Ansprache wieder aufnahmefähig bin, wissen die meisten. Für ein paar Konventionen habe ich Routinen entwickelt, etwa Begrüßungen, die obligatorischen Wünsche zu den Feiertagen, Geburtstagen und zum Jahreswechsel, spontane Begegnungen. Da funktioniert vieles automatisch abspulend. Schrecklich ist, wenn ich neu in eine Gruppe komme, wo sich alle anderen schon kennen. In so einem Fall liebe ich eine Tagesordnung, die ohne Durcheinanderreden (also die Sitzungsleitung erteilt das Wort, es spricht nur, wer gerade dran ist, wer was sagen will, muss sich melden) abgespult wird.

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  2. mo jour

    Oh wie ich vieles von dem kenne – du hast es wunderbar in Worte gefasst.
    Ich habe immer noch die romantische Vorstellung, in Cafés schreiben zu können …
    Aber wenn ich dann da bin – vorausgesetzt, es gelingt mir, einen Tisch für mich allein zu ergattern und den auch zu verteidigen gegen all diejenigen, die der Meinung sind ‚Das macht doch nichts, wenn wir uns dazu setzen?!‘ – dann ist es ein ohrenbetäubender und konzentrationsverhindernder Graus:
    Ich höre und verstehe (!) alle Gespräche nicht nur vom Nachbartisch, sondern bis in die hinterste Ecke; dazu das Plappern des Personals in höchsten Quietschetönen, das Scharren der Stühle auf dem Fußboden, das Lärmen der Kaffeemaschine, Besteck und Geschirr werden laut irgendwohin ‚gepfeffert‘; schlimmstenfalls auch noch ein Dudelfunk-Radio oder andere angeblich ‚musikalische‘ Geräuschkulisse, bei der ich nicht mitschwingen kann.
    Das ist Folter für mich und kostet unendlich viel Energie, es überhaupt auch nur auszuhalten.
    Es ist kein Fitzelchen Wohlfühl dabei!
    Das schaffe ich nur an besonders starken Tagen, an Schreiben ist dann natürlich nicht zu denken.

    Früher gab es Kaffeehaus-Orte, an denen es ganz gut ging. Vor allem im Ausland – wenn ich die Sprache nicht verstehe, kann ich es besser ausblenden. Aber das ist lange her, und leider bin ich entsetzlich sprachbegabt 😉
    Die Welt ist unendlich viel lauter geworden.
    Meine Ohren und meine Seele werden von Jahr zu Jahr empfindlicher.

    Ich wünsche dir Gutes, dass dir viele Wohlfühlorte und -momente und -menschen (!) begegnen auf dem schmalen Grat, auf dem das für uns möglich ist!

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    1. Denkmomente Autor

      Vielen Dank! Ich kann schon seit langer Zeit nicht mehr entspannt in ein Café oder Restaurant gehen. Das ist purer Stress für mich.
      Mit der ausländischen Sprache ist es bei mir genauso. Wenn ich die Sprache nicht verstehe, stört es mich nicht ganz so sehr, als wenn ich jedes Wort verstehe. Ich kann auch oft keine Gespräch führen, wenn ich andere Stimmen um mich herum höre.

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    2. Bee's Mama

      Hallo Unbekannte, ich schicke einen Gruss vom Meer, aus dem Meer. Es tut gut zu wissen, dass es doch noch Menschen gibt, die einem ähnlich zu sein scheinen in diesen kalten, stürmischen und lauten Zeiten.

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  3. atarifroschat

    Ich erkenne mich in allen Punkten der Symptom-Liste wieder!

    Allerdings scheint mir der Begriff „Fehlhörigkeit“ nicht richtig. Wir hören ja nicht falsch oder das Falsche; was wir hören, ist ja auch tatsächlich präsent. Es ist nicht einmal das Hören an sich, sondern die Verarbeitung des Gehörten. Unsere Gehirne parsen ständig alles, müssen alles ständig aktiv verarbeiten. Es gibt keine Filter. Diesen Filtermangel würde ich nicht als Fehlhörigkeit bezeichnen, weil sich irgendwas mit -hörigkeit ja erstmal aufs Gehör bezieht, nicht auf die Weiterverarbeitung im Gehirn.

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    1. Fritz Fuchs

      Ganz recht!
      Es ist mangelnde Selektionsfähigkeit. Wir können schlecht ausblenden, was wir hören (oder auch nur Teile davon).
      Deswegen grenzt hier auch akustische Werbung an Körperverletzung im Sinne einer Vergewaltigung.

      Das ist wie die Suche mit einer Suchmaschine, wenn man alle Ergebnisse sichten müsste.

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  4. Pingback: Auditive Wahrnehmungsstörung – Creautism

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