Bin ich in der Lage Verständnis aufzubringen?

Immer wieder werde ich durch interessante Beiträge zu neuen Blogs inspiriert. Es werden Themen angesprochen, die ich noch nie näher bei mir betrachtet habe. So das Thema „Verständnis“. Eine Reaktion, die autistischen Menschen gerne abgesprochen wird. Hier mein Beitrag dazu:

Mit Verlaub, ich habe in meinem Leben noch nie so vieles aufgebracht wie das Verständnis für andere Menschen. Kaum zu glauben als Autistin, würden vielleicht viele sagen. Eigentlich hat mein ganzes Leben nur aus Verständnis, Verstehen, Empathie und Kompromissen bestanden. Ich habe immer überall, bei jedem und für alles Verständnis aufgebracht, weil ich gedacht habe, das muss so sein, um miteinander klarzukommen. Oder verwechsel ich gerade das Verständnis mit Anpassung? Nein, eigentlich nicht.

Verständnis bedeutet für mich, dass ich die Meinungen, Gefühle und Wünsche anderer gelten lasse, sie akzeptiere, toleriere und respektiere. Das beginnt von der Äußerlichkeit, zieht sich über die Rolle in der Gesellschaft bis zu einer persönlichen Ansicht hin. Es gab kaum einen Menschen, den ich in diesen Bereichen beschnitten oder angegangen bin, solange er mich nicht angriff oder meine moralischen und ethischen Grenzen überschritt.

Ich zeigte Verständnis, wenn jemand zu spät kam.
Ich zeigte Verständnis, wenn mir jemand seine Sorgen erzählte.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand meine Hilfe wollte.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand verärgert war.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand meine Ansichten kritisierte.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand meine Pläne durchkreuzte.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand meine Erziehungsmethoden angriff.
Ich zeigte Verständnis, wenn jemand meine Ehe angriff.
Ich zeigte Verständnis, wenn sich jemand ein anderes Verhalten von mir wünschte.
Ich war ständig darum bemüht, keinen Unfrieden zu verursachen.
Heute stelle ich mir die Frage, ob dieses Verständnis ein falsches Verständnis war und warum ich es aufgebracht habe.

Wieder einmal zwei klare Antworten:
Ja, es war falsches Verständnis.
Warum habe ich es aufgebracht? Weil ich jedes Mal, wenn ich dieses Verständnis nicht aufgebracht hätte, mich einer sozialen Interkation hätte stellen müssen, der ich nicht gewachsen war. Eines habe ich im Laufe meines Lebens gelernt: Menschen ohne Autismus können die soziale Interaktionsfähigkeit anders einsetzen. Sie können innerhalb von Sekunden so viele Argumente abrufen, dass ich darin, ehe ich reagieren kann, vollkommen ertrinke und sich dadurch eine immense Wut in mir aufbaut.

Nun gibt es aber auch andere Formen des Verständnisses, nämlich die, die innerhalb von Partnerschaften oder Beziehungen wichtig sind. Damit komme ich auf das Thema „Funkstille“ zu sprechen. Wenn sich diese Form des Rückzuges bei mir einstellt, dann ist eine Grenze bei mir überschritten worden, in der ich kein Verständnis mehr aufbringen kann. Warum?

Zuvor ist festzustellen, was die Funkstille ausgelöst hat. Meistens handelt es sich um ein Thema innerhalb der Beziehung/Partnerschaft. Von mir wird etwas erwartet, dem ich nicht nachkommen kann und ich versuche es zu erklären. Kommt das Thema wieder auf, versuche ich es erneut zu erklären, diesmal intensiver. Gibt mein Partner aber nicht auf und besteht auf ein Verhalten, dem ich nicht nachkommen kann, kommt es zu der sogenannten Funkstille. Warum? Weil ich Tage, Wochen oder Monate zuvor schon so viel zu erklären versucht habe, was der andere entweder nicht versteht oder verstehen will. Der andere will mich in eine Richtung drängen, der ich nicht nachkommen kann. Ist die Funkstille erreicht, kann ich auch kein Verständnis mehr aufbringen. Vorerst nicht. Kompromisse sind gänzlich unmöglich.

Doch warum wird immer wieder darauf gepocht, nachzugeben? Warum gesteht man gerade autistischen Menschen diese Reaktionen nicht mal ganz kompromisslos und verständnisvoll zu? Was ist daran misszuverstehen, wenn ich sage: „Ich will das nicht“, oder „ich kann das nicht.“ Warum muss immer weitergebohrt und erklärt werden? Ich bin die Erklärungen so satt.

Nun betrachte ich die Sache von der anderen Seite. Ein Mensch ohne Autismus sagt zu mir: „Ich will das nicht.“ Weißt du was ich darauf antworte? Ich sage: „Okay“, und nehme die Antwort als das hin, was sie aussagt. Wenn mir jemand sagt: „Ich kann das nicht“, dann kann ich das sehr gut akzeptieren und lasse denjenigen in Ruhe.

Es gibt Stationen im Leben von Autisten, in denen sie sich nichts sehnlicher wünschen, als in Ruhe gelassen zu werden. Und manchmal muss sich der nicht autistische Mensch fragen, ob ER nicht zu weit mit seinem Verhalten gegangen ist und das Verständnis einfach verspielt hat.
(Meine Blogs gibt es auch zusammengefasst alseBook oder  Printausgabezum Lesen)
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4 Gedanken zu „Bin ich in der Lage Verständnis aufzubringen?

    1. Denkmomente Autor

      Das ergeht vielen so. Es sind die Anhäufung der Merkmale, die interessant sind. Versuch doch mal einen Asperger-Test im Internet zu machen. Dann bekommst du noch mal eine neutrale Anlaufstelle dazu. Man muss in den Tests sich selbst gegenüber nur ganz ehrlich sein. Vielen Grüße!

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