Stalken – fühlen sich Autisten schneller gestalkt als NTs?

Diesen Begriff kennen alle und verbinden kriminelle Handlungen damit. Ich auch. Es ist kriminell, wenn ein Mensch den anderen bedroht, ihn erpresst, ihm nachstellt und schlimme Ängste in ihm hervorruft. Es entstehen Todesängste.

Nun, ich habe nie in meinem Leben jemanden bedroht, ihn erpresst, ihm nachgestellt, doch ich habe einmal schlimme Ängste in einem Menschen hervorgerufen und bin daraufhin mit dem Begriff „stalken“ konfrontiert worden. Ich war geschockt! Noch nie war mir in den Sinn gekommen, dass ich stalke. Es hat mich monatelang emotional zu Boden gerissen. Was war passiert?

Etwas, womit ich nie gerechnet hätte.
Ich lege großen Wert darauf, zu allen Menschen, die mir freundlich begegnen, mit der gleichen Freundlichkeit zu antworten. Als Autistin weiß ich aber manchmal nicht wirklich, wo die Grenze der Freundlichkeit endet und wann es aufdringlich wird. Oder missverständlich. Grenzen erkennen ist eines meiner größten Probleme.
Wie viele, die in Facebook mit mir befreundet sind, wissen, antworte ich immer gerne auf Kommentare oder nehme gerne an Internetdiskussionen teil. Das klappt gut. Da kann ich entscheiden, wie lange ich für eine Antwort brauche und wann ich mich ausklinke. Zu manchen habe ich auch Kontakt per Email.

Als ich noch nichts von Autismus und dem Asperger Syndrom wusste, kam über meine private Facebookseite ein alter Kontakt zustande, der mich sehr freute. Wir tauschten sofort alles aus, was sich in den letzten 30 Jahren in unserem Leben zugetragen hatte. Ich bemerkte, dass wir einige Interessen teilten und schrieb mit großer Freude immer zurück. Er teilte mir mit, dass er das Asperger Syndrom habe und ich besorgte mir sofort das erste Buch darüber, um besser mit diesem Menschen kommunizieren zu können. Durch das Lesen dieses Buches kam ich allmählich dahinter, dass ich auch eine Betroffene sein könnte. Ich begann dem anderen viele Fragen zu stellen. Und das brachte mich in eine fatale Situation. Während ich mit Freude und Freundlichkeit Interesse an dem Asperger Syndrom bekundete, empfand der andere es wohl als Annäherung oder Aufdringlichkeit. Ich erkannte nicht seine Grenze. Er brach den Kontakt in FB ab und erst nach mehrmaligen Anfragen, was passiert sei, bekam ich eine bitterböse Email, ich sei ein Stalkerin.
Diese Nachricht fühlte sich an, als habe mich jemand außer Betrieb gesetzt. Ich soll eine Stalkerin sein? Ich konnte monatelang nicht auf diesen Vorwurf reagieren, war zutiefst verletzt und betrachtete den Kontakt als absolut zerbrochen.

Stalken.
Wann beginnt ein Autist, sich gestalkt zu fühlen?
Ich las im großen Buch von Tony Attwood nach:
„Während die Person mit Asperger Syndrom den Ausdruck von Liebe auf einem niedrigen Level genießt und selbst ausdrücken kann, kann es zu Problemen kommen, wenn derjenige sich in seiner Jugend oder als junger Erwachsener in jemanden „verguckt“. Dann kann der Ausdruck der Liebe und die Handlungen, mit denen Zuneigung ausgedrückt werden, zu intensiv sein. Die nett gemeinten Handlungen eines anderen können so interpretiert werden, dass mehr in sie hineingelesen wird, als mit ihnen gemeint war. Die beeinträchtigten Theory-of-Mind-Fähigkeiten können dazu führen, dass die Person mit Asperger Syndrom annimmt, dass die andere Person sich ebenfalls verliebt hat und dass sie ihr dann folgt und weiter mit ihr reden will. Das kann dazu führen, dass man ihr Stalking vorwirft.“

Damit hatte ich eine Erklärung und versuchte den Kontakt wieder herzustellen. Und tatsächlich, es gelang. Ich erfuhr auch, dass diese Missinterpretation dem anderen leid tat. Doch dann setzte sich bei mir etwas anderes in Gang. Ich bekam Angst, diesem Menschen weiterhin freundlich zu begegnen. Stellte mir die Frage, wann er sich wieder gestalkt fühlt und wann nicht. Wann war eine Frage aufdringlich, wann nicht? Ich brach von meiner Seite den Kontakt ab, doch er kam nach wenigen Monaten wieder zustande. Ich war immer noch derart verunsichert, dass ich nie wieder zu der alten Gelassenheit zurückfand und brach erneut ab. Ich kann diesen Vorfall einfach nicht einsortieren. Ich weiß einfach nicht mehr, wo jetzt die Grenze sein soll. Vergeben und Vergessen funktioniert bei mir nicht.

Fühlen sich Autisten schneller gestalkt als NTs?
Dass bei Autisten das Gefühl von stalken schneller zustande kommt, kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen. Es gab auf meiner FB-Seite einen Vorfall, der mir äußerst unangenehm war. Da begann ein neuer Kontakt plötzlich, für mich aufdringliche Bemerkungen auf meine Chronik zu posten. In mir entstand direkt das Gefühl, einen Stalker an Land gezogen zu haben. Das machte mir Angst. Doch dann erinnerte ich mich an diesen besagten Vorfall. Wie schnell sich der andere durch mich verfolgt gefühlt hatte. Ich beschloss, diesem aufdringlichen Kontakt meine Ängste zu erklären. Dass er diese Postings bitte aufhören solle. Würde er reagieren? Vielleicht wollte er auch nur freundlich sein. Und tatsächlich, es kam eine große Entschuldigung zurück und die Postings hörten auf. Der Kontakt besteht bis heute in einer Form von Respekts, die ich gut aushalten kann und bin froh, so besonnen reagiert zu haben.

(Ab jetzt kann man meine Blogs auch zusammengefasst als eBook oder  Printausgabe lesen)
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7 Gedanken zu „Stalken – fühlen sich Autisten schneller gestalkt als NTs?

  1. Aada K. Lopez

    Liebe Marion,

    diese Gefühle auf der einen Seite, aber auch die Ängste auf der anderen, teile ich absolut! Ich bin allerdings auch noch der Meinung, dass weibliche Autisten tatsächlich viel schneller belästigt und gestalkt werden, als NT-Frauen.

    Wir strahlen eine Art Opferrolle aus oder senden einfach die falschen Signale. Mir ist das in meinem Leben schon ganz häufig widerfahren. Schrecklich!

    Liebe Grüße, Aada!

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  2. Chris

    Sehr interessantes Thema!
    Könnte es nicht auch sein, das Autisten Signale aussenden, dies aber selber gar nicht wahrnehmen? Diese Signale müssten ja auch gar nicht falsch sein, werden aber eben nicht bewusst wahrgenommen. Somit müsste man sich nicht über den/die „Stalker/in“ wundern sondern nur über sich selber.

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    1. Denkmomente Autor

      Ja, da ist durchaus was dran. Ich glaube, es hat mit Freundlichkeit zu tun. Wo ist die Grenze der Freundlichkeit? Und wann werden daraus Signale, die eine Art Stalken in Gang setzen?

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  3. Chris

    Nein, ich denke Freundlichkeit ist es nicht, dann müssten ja vermehrt freundliche Menschen gestalkt werden… Ich denke auch es gibt keine Signale, die Stalken auslösen.
    Meiner Erfahrung nach treten für einen autistischen Menschen aber unerwartete Ereignisse ein, die er sich nicht erklären kann und ihn dann Furcht bereiten. Dass die autistische Person dann aber selber – unbewusst – Auslöser genau dieser Ereignisse ist, wird nicht oder erst sehr spät erkannt. Soll nicht bedeuten, dass autistische Person selber am gestalkt sein schuld sein sollen – in Wirklichkeit wird ja überhaupt nicht gestalkt!
    Meiner Meinung nach möchten viele Autisten doch aus ihrer eigenen Welt – jedenfalls zum Teil entfliehen – doch nur wie? Und Möglichst nicht auffallen. Doch genau das fällt einem guten Beobachter auf und weckt eventuell Interesse – und schon haben wir das Dilemma…
    Einem wirklich krankhaften Stalker wird es egal sein, ob sein Opfer autistisch ist oder nicht, diesem will aber niemand begegnen.

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    1. Chris

      Hallo Marion!

      Ich möchte Dir hier noch kurz meinen Hintergrund erklären.
      Vor 3 Jahren kam ich das erste Mal mit einem autistischen Menschen in Kontakt. Nennen wir die Person Amelie. Amelie hat kein diagnostiziertes Asperger, bezeichnet sich aber selbst als „leicht autistisch“.
      Ein Beispiel Ihres Verhaltens ist z. B. dass sie bei parkenden Autos die Speichen der Räder zählt – dies ist aber wirklich nur EIN Beispiel.
      Der gewählte Namen deutet schon ein wenig an, dass es hier auch um „Verliebtheit“ geht, dies ging jedoch eher von ihrer Seite aus – und ihr „Verlieben“ ist natürlich „GANZ“ anders – ihre eigenen Worte…
      Wir arbeiteten in der gleichen großen Firma, bedingt durch Ihren Wohnsitz begann sie Ihre Arbeit immer ca. 30 min vor mir – ich nutze für meinen Arbeitsweg das Fahrrad.
      Gleich als erstes am Morgen ging man in Ihrer Abteilung gemeinschaftlich zum morgendlichen Kaffeetrinken – immer eine kleine Gruppe von ca. 5-7 Personen. Der Fußweg zur Lokalität in der Firma ist ca. 300m Meter. Um ca. 7:50h dann wieder der gemeinschaftliche Rückweg, dies ist dann auch genau die Zeit meines Erscheinens am Fahrradständer. Dieser ist vom Rückweg des Kaffeetrinkens einsehbar.
      Und hier konnte ich mehrfach erkennen, wie Amelie den Hals reckte und nach mir schaute (suchte?). Dies fiel nicht nur mir auf, sondern auch einem weiteren Kollegen, mit dem ich später drüber sprach. Für mich auch ein nachvollziehbares Verhalten. Sehr viel später hatte ich dann mit Amelie über meine Beobachtung gesprochen und hier kam die Überraschung: So etwas habe sie nie gemacht! Zu diesem Zeitpunkt wäre sie noch gar nicht verliebt gewesen – verlieben ist für sie ein komplizierter, länger dauernder Ablauf. Meine Beobachtung war ja nicht ganz subjektiv (dem Kollegen ist das ja auch aufgefallen), sie sagte, dass sie weder mich noch irgendjemand oder -etwas anderes beobachtet hätte – alles war für sie wie immer gewesen. Ich glaube ihr hier absolut, ich kann mich nicht erinnern je von ihr belogen geworden zu sein, warum auch? 🙂 🙂 🙂
      Aus der Verliebtheit ist dann leider nichts geworden, wir haben aber noch immer Kontakt, wenn sie auch nicht mehr in der gleichen Firma arbeitet. Für Dich ein absolutes Highlight aus einem email von ihr vor Weihnachten – wörtlich: „Und schafft es mit einer unglaublichen Ruhe, sie von langantrainierten Gewohnheiten wegzubringen, wenn er darin keinen Sinn sieht“. Sie spricht hier von Ihrem jetzigen Freund, ihrem „Traumprinzen“ – auch ich hatte versucht an ihrem Verhalten zu rütteln, natürlich aber mit nur mäßigem Erfolg. Es geht aber doch, zumindest für Sie! Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte mir niemand machen können!
      Meine Verbindung zum Stalking rührt vom Kontakt mit einer anderen Person her, die ich mit heutigem Wissen auch im Bereich des autistischen Verhaltens sehe – dies sind aber nur subjektive Vermutungen – diese Person ging zum Amtsgericht, wegen eines aufgestellten Autoscheibenwischers und Blumen zum Geburtstag. Sie fühlt sich dadurch verfolgt, belästigt und sogar bedroht – vollkommen überraschend für mich.

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      1. Denkmomente Autor

        Liebe Chris, vielen Dank für dein Vertrauen, uns diese Geschichte mitzuteilen. Ja, ich erkenne vieles wieder, über das du schreibst. Der Begriff „Stalken“ entweicht im Grunde der wahren Bedeutung. Oft befindet sich kein kriminelles Verhalten dahinter, aber der Begriff trifft vielleicht die Intensivität des Gefühls desjenigen am ehesten. Ich empfinde den Begriff als sehr gefährlich und auch verletzend. „Stalken“ hat etwas mit krankhaftem Verhalten zu tun. Für Autisten ist es leider oft schwer zu filtern, was der andere einem wirklich mitteilen will. Umgedreht ist es für Autisten selbst auch schwer, einem anderen seine Zuneigung „behutsam“ zu zeigen. Also sollte man „stalken“ in dem Zusammenhang etwas entspannter betrachten, damit die Emotionen nicht zu hoch kochen. Das habe ich zumindest gelernt. Viele Grüße!

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